Süddeutsche Zeitung

Ortsgedächtnis - Ein Blick in die Archive: SZ-Serie:Lehrerin der Ortsgeschichte

Im Archiv der Gemeinde Grafrath sortiert Christel Hiltmann seit 15 Jahren nicht nur alte Dokumente, sondern arbeitet auch die Geschichten bekannter Einwohner auf. Gefragt ist ihre Arbeit sogar in den USA.

Von Florian J. Haamann, Grafrath

Während viele Archive im Landkreis irgendwo im Keller des Rathauses oder in sonst einem dunklen Raum verborgen sind, residiert das Grafrather Archiv in einer eigenen Villa. Frei stehend, auf einem großen Grundstück, ein wenig versteckt hinter Supermarkt und Rasso-Apotheke. Nur selten muss Archivbetreuerin Christel Hiltmann diese kleine Oase teilen. Immer dann nämlich, wenn ein Schlagzeugschüler der Rasso-Musikschule in dem kleinen Raum unter dem Dach Unterricht hat. "Die will man sonst nirgends, wegen der Lautstärke", sagt Hiltmann und lacht.

Die anderen Räume des Hauses stehen Hiltmann zur Verfügung, im Erdgeschoss finden sich Regale mit den Ordnern und sorgfältig beschrifteten Kartons. In der Mitte des Raums steht außerdem eine alte Schulbank, die Hiltmann vor dem Sperrmüll gerettet hat, daneben ein alter Fahrkartenschrank, den ein Sammler aus dem Bahnhof gerettet hatte. Übernommen hat sie das Archiv vor etwa 15 Jahren, als sie nach fast vier Jahrzehnten als Lehrerin in Grafrath in Pension gegangen ist. "Mein Vorgänger war krank, und ich habe gehört, dass eine Nachfolge gesucht wird. Ich wollte eine Beschäftigung für den Ruhestand, und ich mag Grafrath". Also hat sie sich für den ehrenamtlichen Posten entschieden. Die Villa ist bereits der dritte Ort, an dem sie die Geschichte der Gemeinde bewahrt. Erste Station war - natürlich - der Keller des Rathauses, danach ging es in einen Raum in der Schule. Als vor einigen Jahren nebenan der Supermarkt gebaut wurde, wurde die Villa frei. Ob das Archiv nun langfristig dort bleiben darf, weiß Hiltmann nicht. Letztlich entscheide die Gemeinde, was mit dem Grundstück geschieht.

Eine der ersten Aufgaben, die Hiltmann nach ihrem Antritt angegangen ist, war es, das Archiv zu entwirren. Denn erst 1972 sind die Orte Unteralting und Wildenroth zur Gemeinde Grafrath fusioniert. Als Hiltmann das Archiv übernommen hat, "war alles zusammengeschüttet". Also hat sie die Dokumente wieder aufgeteilt und sortiert: G, U, W, steht auf den Ordnern und Kisten, damit man gleich erkennt, was wo zu finden ist. Eine zweite große Aufgabe sei die Digitalisierung des Materials gewesen. Dazu gehört unter anderem eine Sammlung mit mehr als 200 Ansichtskarten. Anfang des 20. Jahrhunderts war Grafrath ein beliebter Ausflugsort, die Karten künden von dieser Zeit.

Hiltmann führt ihr Archiv mit einem großen Engagement, das weit über das Sortieren von Akten und das Beantworten der seltenen Auskunftsanfragen hinausgeht. Unter anderem schreibt sie für das Mitteilungsblatt der Gemeinde die Geschichten bekannter Grafrather auf, wie etwa Godela Orff, der Tochter von Carl Orff, oder dem noch lebenden, international bekannten Naturfotografen Norbert Rosing, dazu kommen Texte über bekannte Orte, wie den alten Bahnhof. Andere Themen arbeitet sie seit einigen Jahren in Jahreskalender auf, der für 2022 zeigt Bilder, die Künstler von Grafrath gemalt haben.

Aktuell bereitet sich Hiltmann darauf vor, den Nachlass von Heinrich Mayr ins Grafrather Archiv zu übernehmen. Mayr war Forstwissenschaftler, Professor und gilt als Gründer des forstwirtschaftlichen Versuchsgartens. Auf mehreren Weltreisen und als Dozent in Tokio hat er die verschiedensten Pflanzen kennengelernt und nach Grafrath geholt. Eine Vitrine mit Objekten aus seiner Zeit in Japan steht als Leihgabe des Archivs bereits im Rathaus der Gemeinde.

International ist auch die aktuellste Anfrage, die Hiltmann bearbeitet. "Ein Grafrather Café-Besitzer ist Ende der Vierziger oder Anfang der Fünfziger nach Amerika gegangen und hat dort ein Café eröffnet. Jetzt haben sich die Nachbesitzer aus Amerika bei mir gemeldet, weil sie mehr über die Familie ihres Vorgängers wissen wollen". Die Informationen, die sie finden konnte, hat Hiltmann bereits ins Englische übersetzt. Und so weiß man dank ihres Einsatzes bald auch in Amerika mehr über Grafrath.

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