Konzentriert schiebt Rainer Rauscher seinen Unterkiefer nach vorne. Sein Blick wandert nach oben, prüft, ob alle sechs "Schwaiberln" richtig entlang des Stammes positioniert sind. Denn auch wenn das Maibaumaufstellen für die Zuschauer ein rustikales Spektakel ist, geht es am Stamm um Feinarbeit. Da Rauscher diesem Brauch schon seit Jahrzehnten beiwohnt, ist er es, der am 1. Mai in Olching vor den Augen von Bürgermeister Andreas Magg den Ton angibt. Rauscher ist das Hirn, das die Muskelmasse der etwa 50 - jüngeren und älteren - Burschen, die meisten von ihnen anlassgemäß in Tracht gekleidet, koordiniert. Nun schreitet er noch einmal die Reihen ab, bittet Moderator Charlie Frey, der gerade noch das Publikum über die Ursprünge der Tradition aufklärt, um Ruhe.
"Seid ihr alle in Spannung?!", ruft er den Helfern an den Stangen zu, die daraufhin ihre Schuhe noch fester auf den Asphalt pressen und ihre Oberkörper nach vorne drücken. "Uuuuund hopp", gibt Rauscher das Kommando. Gleichzeitig setzen sich die Männer in Bewegung, schieben die Stangen mit kräftigen Schritten zusammen. Nur wenige Sekunden. Dann kommt alles wieder zum Stehen. Das Gewicht des Baumes lagert nun auf einem untergeschobenen Bock und vier der Schwaiberln. Genannt werden die beiden mit einem kunstvoll geknoteten Seil verbundenen Stangen deshalb so, weil die Konstruktion an gegabelten Schwanz einer Schwalbe erinnert. "Das war aber ein ordentlicher Schub, bestimmt drei Meter", kommentiert Moderator Frey, und das Publikum spendet Szenenapplaus.
Wie identitätsstiftend so ein archaisches Ritual für eine junge, an Tradition nicht gerade reiche Stadt wie Olching ist, das zeigen die gut Tausend Besucher auf dem Nöscherplatz, die dem mehrstündigen Spektakel beiwohnen. Organisiert wurde das Fest von der Kolpingsfamilie gemeinsam mit der Faschingsgilde und der Feuerwehr Olching. Beim Aufstellen an diesem Vormittag werden sie von zahlreichen Helfern von anderen Vereinen unterstützt.
Dazu passt, das der nun zweijährige Maibaum ganz traditionell aufgestellt wird. Also nur mit Stangen und Muskelkraft, ganz ohne die Unterstützung durch einen Traktor oder gar einen Kran, wie es andernorts mittlerweile durchaus üblich ist. Und in diesem Jahr ist es sogar ein Akt der Völkerverständigung. Unterstützt werden die Olchinger Burschen von einer zweiköpfigen Delegation aus der französischen Partnerstadt Feurs. Sie sollen schon einmal live mitbekommen, wie das alles funktioniert. Denn Ende des Monats wird eine Abordnung aus Olching nach Frankreich fahren, um dort beim Aufstellen eines Maibaums zu helfen.
Anfangs allerdings dürfen die beiden französischen Kollegen nur zuschauen. Zu gefährlich sind die ersten Schübe für ungeübte Helfer. Doch als etwa ein Drittel an Höhe geschafft ist, dürfen sie mit anpacken. Sie werden zum hintersten Schwaiberl gelotst und trotz Sprachbarriere direkt integriert.
Das Aufstellen gleicht einer komplexen Choreografie: Schub, abstellen, die entlasteten Schwaiberln rausnehmen und neu aufstellen, Ausrichtung überprüfen, Anweisungen geben, Spannung aufbauen, Schub. In den Zwischenphasen werden die Helfer mit frisch gefüllten Maßkrügen versorgt, einer pro Stange, der dann im Kreis wandert. Für die Unterhaltung des Publikums sind Essens- und Getränkestände aufgebaut, und auf einem Podest platziert ist die Blaskapelle Olching - und natürlich Moderator Frey von der Kolpingsfamilie, der auch als Redner beim Starkbierfest für seine bissigen Pointen bekannt ist.
Fürs Baumaufstellen hat er sich diesmal ein Quiz ausgedacht. Drei Fragen, wie lang ist der Baum, wie schwer ist er und wie viele Kubikmeter hat er, müssen die Zuschauer beantworten. Für die richtige Antwort gibt es jeweils einen Getränkegutschein. Durch Raten tasten sich die Teilnehmer an die richtigen Lösungen heran. Die Zahlen sind eindrucksvoll. Knappe 28 Meter misst der Maibaum bei einem Gewicht von gut einer Tonne.
Einer allerdings lässt sich von dem Spektakel um ihn herum nicht beeindrucken: Rainer Rauscher. Beständig ist er von einem Schwaiberl zum nächsten unterwegs, ruft, wenn nötig, die Helfer zur Ordnung. "Jetzt habt ihr beide gleichzeitig raus. Das kann gefährlich werden. Beim nächsten Mal bitte auf mich hören", sagt er freundlich aber bestimmt. Als alles wieder sortiert und konzentriert ist, ist es Zeit für sein Kommando: "Uuuuund hopp."