Wer in München auf die Straße geht, folgt häufig dem Aufruf eines Mannes. Viele wissen gar nicht, wer der Kopf hinter den Demonstrationen ist, bei denen es mal gegen Atomkraft, mal gegen Krieg oder Rassismus geht. Es ist ein schmaler Mann, sein Haar ist grau geworden mit den Jahren, aber seine dunklen Augen sind noch wachsam.
Claus Schreer blickt in den blauen Himmel, als könnte er dort die Antwort darauf finden, was ihn seit nun 60 Jahren auf die Straße treibt, um gegen Leid und Unrecht und für eine friedlichere und gerechtere Welt zu protestieren: "Es muss sich und es wird sich etwas ändern."
Das fühlte Claus Schreer schon früh im Leben. Der gebürtige Oberschlesier wuchs in den Fünfzigerjahren in Dachau auf und ging zeitweise auf eine Klosterschule, "das hat mich schon auch ein bisschen geprägt", sagt er und lacht. Denn mit Institutionen wie der Kirche hat es der streitbare Mann natürlich nicht, auch nicht mit der Bundeswehr, in die er 1956 eingezogen werden sollte.
"Da dachte ich: Um Gotteswillen, das ist ja das Gleiche wie im Internat." Er verweigerte als einer der ersten jungen Männer im Nachkriegsdeutschland den Wehrdienst - den Kriegsdienst, wie der überzeugte Pazifist die Ausbildung an der Waffe nennt. Er musste zur mündlichen Verhandlung, letztlich wurde er ausgemustert. "Damals bin ich politisiert worden", sagt er. Schreer betont das, als ob der Staat, die Obrigkeit aus ihm den Homo politicus formte, der er bis heute ist.
Die atomare Aufrüstung war das Hauptthema des jungen Claus Schreer
Vielleicht war es aber auch die Zeit, die ihn zum politischen Menschen und zum unermüdlichen Demonstranten machte. 1957 wandten sich hoch angesehene deutsche Atomforscher in der Göttinger Erklärung gegen die von Bundeskanzler Konrad Adenauer und Verteidigungsminister Franz Josef Strauß geplante Aufrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen.
Schreer, der zu dem Zeitpunkt schon in München lebte und eine Ausbildung zum Grafiker machte, begann sich politisch zu engagieren, die atomare Aufrüstung war das Hauptthema des jungen Claus Schreer. 1961 fand in München der erste Ostermarsch statt, bei dem Erich Kästner eine Rede auf dem Königsplatz hielt, die mit den Worten endete: "Unser friedlicher Streit für den Frieden geht weiter. Im Namen des gesunden Menschenverstands und der menschlichen Fantasie. Resignation ist kein Gesichtspunkt!" Für Claus Schreer muss dies ein Weckruf gewesen sein.
Schon in den Jahren darauf organisierte er die Münchner Ostermärsche, die Bedrohung durch einen Atomkrieg blieb zunächst das beherrschende Thema. Später benannte sich die Ostermarschbewegung in "Kampagne für Demokratie und Abrüstung" um, es ging dann auch um die sogenannten Notstandsgesetze, die im Mai 1968 Zehntausende Menschen auf die Straße trieben, das war ein Monat nach dem Attentat auf Rudi Dutschke.