Freizügigkeit:In ganz Europa unterwegs

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Pflegekräfte sind begehrt und umworben: Die Münchner Träger werben im In- und Ausland um neue Mitarbeiter. Auch der Markt für osteuropäische Haushaltshilfen boomt

Von Sven Loerzer

Nein, Zweifel lässt Alexandra Iosif gar nicht erst aufkommen. "Natürlich vermisse ich meine Freunde und meine Familie", sagt sie, "aber ich fühle mich hier zuhause. Ich habe mich in Deutschland nicht wie eine Ausländerin gefühlt." Dass sie in München zuhause ist, hat nicht nur damit zu tun, dass ihr Freund schon länger hier lebt, sondern auch viel damit, dass die EU Arbeitnehmern Freizügigkeit bietet. Die 29-Jährige ist in Rumänien geboren, hat in Italien Pflege studiert, in Spanien während ihres Erasmus-Jahres ein Praktikum in einem Krankenhaus absolviert und arbeitet nach ihrem Bachelor seit August vergangenen Jahres beim städtischen Altenheimträger Münchenstift. "Deutschland gibt mir Sicherheit, die habe ich nicht gefunden in Italien und in Spanien." Dort habe sie nicht das erlebt, was sich ihr hier bietet: "Deutschland hat sehr gute Perspektiven für eine Pflegekraft." Ihr Arbeitgeber habe ihr nicht nur den Sprachkurs bezahlt, sondern auch zu einer Wohnung verholfen. Mit der Anerkennung ihrer Qualifikation, die sie hier noch mit dem Master krönen will, ging es schnell: "Ich habe viele Kollegen, die nicht aus der EU sind und sich sehr schwer mit der Anerkennung tun."

Ohne Zuwanderung müssten Altenpflegeheime und Krankenhäuser ganze Stationen mangels Personal schließen. "Ohne Anwerbemöglichkeiten aus EU- und Nicht-EU-Ländern würde die Pflege längst nicht mehr funktionieren", sagt Münchenstift-Geschäftsführer Siegfried Benker. Rund 19 Prozent der knapp 2000 Mitarbeiter in den 13 Münchenstift-Häusern haben die Staatsangehörigkeit eines anderen EU-Landes als Deutschland, etwa 35 Prozent kommen aus Drittstaaten, nur noch 46 Prozent sind deutscher Nationalität. "Wir sind in ganz Europa unterwegs, um zu schauen, ob wir Menschen motivieren können, bei uns in der Pflege zu arbeiten", sagt Benker. "Aber die europaweite Konkurrenz ist groß." Ausländische Pflegekräfte überlegen sich immer mehr, wo sie hingehen: "Die Schweiz ist sehr interessant, weil die Bezahlung dort sehr viel höher ist", sagt Benker, aber auch Dänemark, Schweden und Finnland seien gefragt, nicht nur wegen der höheren Bezahlung, sondern auch wegen der besseren Arbeitsbedingungen, weil dort mehr Personal finanziert wird.

Diesen Eindruck bestätigt auch Doris Schneider, Geschäftsführerin der Caritas-Altenheime. "Es spricht sich schnell herum, wo die Konditionen besser sind." Ausländische Arbeitskräfte spielen auch für die fünf Caritas-Altenheime in München mit knapp 600 Beschäftigten eine große Rolle: "Wenn wir sie nicht hätten, dann hätten wir ein deutlich größeres Problem in der Pflege." Mehr als die Hälfte der Mitarbeiter kommt nicht aus Deutschland, fast zwei Drittel davon aber aus anderen EU-Ländern.

Der Dienstplan im Pflegeunternehmen Münchenstift, hier in der Rümannstraße, ist übervoll. Viel Arbeit für oft zu wenig Personal. (Foto: Catherina Hess)

Immer wichtiger wird die Anwerbung für Engpassberufe, wie die Pflege von der Bundesagentur für Arbeit klassifiziert wird, aus Drittstaaten: "Die Zuwanderung in die Pflege ermöglicht, sich einen Aufenthaltsstatus zu erarbeiten", erklärt Benker. Nach fünfjährigem rechtmäßigen Aufenthalt kann man eine Daueraufenthaltserlaubnis für die EU erhalten. Knapp zwei Drittel der Münchenstift-Mitarbeiter aus Drittstaaten kommen aus den Ländern des ehemaligen Jugoslawien, wie Serbien und Bosnien, die Caritas rekrutiert Personal von den Philippinen. In Anspielung auf ein Zitat von Bundesinnenminister Horst Seehofer sagt Benker deshalb: "Migration ist die Mutter aller Lösungen." Seehofer werde in den Großstädten kaum ein Heim finden, das ohne Zuwanderung noch funktioniere. "Die Grenzöffnung ist ein Segen." Noch deutlicher zeigt sich das bei den 250 Auszubildenden, von denen knapp 90 Prozent einen Migrationshintergrund haben.

Ohne Zuwanderung müssten Altenpflegeheime und Krankenhäuser ganze Stationen mangels Personal schließen. (Foto: Catherina Hess)

An diesem Sonntag ist es genau 199 Jahre her, dass die Britin Florence Nightingale, die Begründerin der systematischen Krankenpflege, geboren wurde. Ihr zu Ehren wird der 12. Mai als Internationaler Aktionstag der Pflege begangen. "Ohne Migration aus Europa und Drittländern wäre die Pflege in Deutschland längst nicht mehr sicherzustellen", betont auch Claus Fussek, der seit vier Jahrzehnten für bessere Bedingungen in der Pflege kämpft. Im Europawahlkampf aber sei die Pflege kein Thema, obwohl ohne Haushaltshilfen aus Osteuropa auch die Pflege zuhause nicht mehr auskommen würde. Rund 70 Prozent der zu Pflegenden leben daheim. "Wenn wir die Frauen aus Osteuropa nicht hätten, würde die komplette häusliche Pflege kollabieren", sagt Fussek. "Ich kenne niemanden, der nicht jemand kennt, der eine osteuropäische Haushaltshilfe hat, der Markt boomt." Die EU-Osterweiterung brachte eine legalisierte Form der Hilfe: Haushaltshilfen, die vor allem aus Polen, Tschechien und Rumänien von dortigen Unternehmen für meist sechs Wochen bis zwei Monate entsandt werden, um in den Haushalten der Pflegebedürftigen zu leben und zu arbeiten. Tatsächlich müssten sie sich an das deutsche Arbeitsrecht halten, faktisch aber kümmern sie sich zwar nicht dauernd, aber meist rund um die Uhr um die zu Pflegenden. Solche Angebote sind meist unter dem Stichwort "24-Stunden-Pflege" zu finden, auch wenn dann der Ordnung halber auf die Arbeitszeitregelungen hingewiesen wird, die dem Einsatz nur einer Kraft entgegenstehen. Sie sei "unter 2500 Euro monatlich legal nicht zu bekommen", dazu kämen Fahrtkosten, Unterkunft und Verpflegung, zählt Fussek auf. Wenn es günstiger geht, dann handelt es sich meist um Schwarzarbeit. Manche Vermittler bieten die Haushaltshilfen wie Autos an: In der preiswerten Grundausstattung ohne Sprachkenntnisse bis hin zur teuersten Variante mit guten deutschen Sprachkenntnissen und Erfahrung in der Pflege.

Jenseits der deutschen Grenze zu Tschechien und Polen entwickelt sich zudem ein Heim-Angebot, das offensiv um deutsche Pflegebedürftige wirbt, mit Preisen, die, wie es heißt, "dreimal günstiger" sind. Dort gibt es nicht selten Pflegeplätze für 1200 bis 1600 Euro monatlich, während hierzulande oft 4000 bis 5000 Euro anfallen. Längere Pflege zehrt das Vermögen auf - und wenn dann die Sozialhilfe einspringt, kann es sein, dass Kinder mit ausreichendem Einkommen auch zu Zahlungen herangezogen werden. Die "Entsorgung und Endlagerung von Angehörigen im Ausland" aus finanziellen Gründen findet Fussek "ethisch unerträglich".

© SZ vom 11.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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