Ein Klappstuhl, ein Schreibtisch mit Computer, ein Telefon. Im Moment sieht das Büro von Dorothea Zwölfer im frisch renovierten Gemeindehaus bei der Erlöserkirche noch reichlich spartanisch aus. "Immerhin, Vorhänge sind da", sagt die neue evangelische Pfarrerin in Erding. Seit November ist sie in der Kirchengemeinde im Einsatz. Zum Pressegespräch kommt sie pünktlich, geduldig folgt sie den Anweisungen des Fotografen, dem bald ihre rot-orangen Socken auffallen,passend zum roten Pulli und den roten Turnschuhen. Dazu habe ihr ihre Frau geraten, verrät die 56-Jährige lachend. Offen und engagiert spricht sie über ihre besondere Vita: Sie hatte früher einen männlichen Vornamen und Personenstand.
Einer der schlimmsten Termine in ihrem Leben dürfte für Dorothea Zwölfer ein Abend bei der Feuerwehr im Frühjahr 2013 gewesen sein; damals noch als Pfarrer einer kleinen niederbayerischen Gemeinde. "Ich wusste die ganze Zeit, dass ich mich am nächsten Tag outen werde." Am Tag darauf informierte sie dann die Gemeinde nach dem Gottesdienst darüber, dass sie künftig Frau Pfarrerin sein werde, nicht mehr Herr Pfarrer. Schon zwei Jahre zuvor hatte Zwölfer sich ihrer Frau offenbart, dass sie nicht länger als Mann leben wolle, auch operativ eine Geschlechtsangleichung plane. Ein Schock für die Partnerin, mit der sie seit 1986 verheiratet ist. Es folgte eine schwierige Zeit, "ein langer Trauerprozess für meine Frau", bis schließlich feststand: "Wir bleiben zusammen." Den Eltern hatte sie sich in einem Brief offenbart, den sie ihnen unter Tränen überreichte. Drei Stunden später kam eine SMS: "Wir stehen hinter dir."
Dann folgte "der zweite Sechser im Lotto", so Zwölfer: Der Arbeitgeber ließ sie nicht fallen. "Wir finden eine Lösung", erklärte der Vorgesetzte. So ist es dann auch gekommen. Zuletzt war Dorothea Zwölfer, inzwischen auch amtlich eine Frau, im Dekanat Coburg als Pfarrerin tätig, wo sie vor kurzem öffentlich und herzlich verabschiedet worden ist.
Der Umzug nach Erding ist fast eine Heimkehr. Dorothea Zwölfer ist im Nachbarlandkreis Freising aufgewachsen, hat am musischen Camerloher-Gymnasium Abitur gemacht, war in der evangelischen Kirchengemeinde aktiv. In Freising hat sie Ehefrau Claudia kennengelernt. Sie wollte eigentlich Elektrotechnik studieren, absolvierte zwei Semester Informatik, dann habe sie gewusst, dass das Fach Theologie, in dem sie auch eingeschrieben war, das Richtige ist. Gemeinsam mit Ehefrau Claudia nahm sie die erste Stelle im Dekanat Landshut an.
Die seelsorgerische Tätigkeit bereitete ihr immer Freude, sie liebt ihre Familie, und doch tauchten da immer wieder "Puzzleteile" aus ihrem Innersten auf, wie Zwölfer sie nennt. "Da war etwas, ich hatte aber keinen Begriff dafür." Schließlich hatte sie Gewissheit. "Ich wurde mit einer neurologischen Variante der Geschlechtsentwicklung geboren", oder kurz: Ihr Hirn habe ihr schon immer signalisiert, dass sie eine Frau ist. Dieses Wissen passt nicht zu ihrem Körper. Transsexualität suche sich niemand aus. Sie habe Freunde verloren, sei angefeindet, verunglimpft worden. Es ist zudem ein schwerer, steiniger Weg bis zur erfolgreichen Geschlechtsangleichung. Psychiatrische Gutachten, Psychotherapie, Hormontherapien, viele Gänge durch den Behördendschungel und schließlich die OP waren erforderlich. Zwölfer hat sich auch vom Erdinger Arzt Cvetan Taskov beraten lassen, der am Klinikum Erding die Abteilung für plastische und ästhetische Chirurgie zu einem der deutschlandweit wichtigsten Transgender-Zentren entwickelt hat. Letztendlich hat sie sich dann für eine OP in München entschieden. Mit dem Ergebnis ist sie sehr zufrieden.
Sie zitiert das Bibelwort "Musst du durchs Feuer gehen, so bleibst du unversehrt", denn "Gott hält seine Hand drüber und du wirst nicht verbrennen". Für sie habe dieser Spruch große Bedeutung: "Ich bin einmal durchs Feuer durch." Und so wolle sie auch den Gläubigen, gerade in Pandemiezeiten oder sozialen Notlagen, Mut machen. "Ich will der Gemeinde vorleben und es auch sagen, dass der Glaube Chancen bietet, dass er Mut machen kann und Hoffnung." Gott helfe, Hürden zu nehmen, "ich habe das selbst erlebt".
Am Sonntag wurde Dorothea Zwölfer in einem feierlichen Gottesdienst in der Erlöserkirche offiziell in ihr Amt eingeführt. Auf die Arbeit in Erding freut sie sich. Vier Stunden Religionsunterricht gibt sie bereits an einer Schule und sie lobt die Aufgeschlossenheit des Kirchenvorstands. Dem Gemeindehaus kommt beim Stadtquartiermanagement für Klettham eine große Rolle zu, es will ein offenes Haus sein, Treffpunkt und Anlaufstelle für alle Bewohner des Erdinger Stadtteils. Auch die Beratungsstelle der Diakonie Freising wird dort demnächst ihre Arbeit aufnehmen.
Dorothea Zwölfer will sich weiterhin in der Transsexuellen-Seelsorge engagieren, in der Fachgruppe der Evangelischen Kirche Hessen-Nassau für Gendergerechtigkeit und im Verein Kreuzweise-Miteinander, der sich für Minderheitenrechte einsetzt. Hoffentlich bleibt da noch Zeit fürs Musizieren, für Wander- und E-Bike-Touren, für Tischtennis und Fotografieren. Tanzengehen würde sie auch wieder gerne mit Frau Claudia, mit der sie bis heute verheiratet ist. Allerdings beherrsche sie nur die Männer-Schrittfolgen. Umlernen will sie nicht mehr. "Vielleicht fangen wir ja mit Western-Tanz an."