SZ-Serie: 18/18, Folge 3:Dachau vor 100 Jahren: Kurzer Aufschwung, lange Tragik

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Die Arbeit in der Dachauer Pulver- und Munitionsfabrik war gefährlich und schlecht entlohnt. Das Gelände nutzten die Nazis später für das Konzentrationslager (Foto: Toni Heigl)

Die Pulver- und Munitionsfabrik sollte der Stadt Wohlstand bringen. 1919 wurde sie geschlossen. Die Nazis nutzten das Gelände später für das Konzentrationslager.

Von Thomas Altvater, Dachau

"Ihr werdet wieder zu Hause sein, ehe noch das Laub von den Bäumen fällt", versprach er den Soldaten. Der deutsche Kaiser Wilhelm II. rechnete mit einem schnellen Ende der Kampfhandlungen. Eine fatale Fehleinschätzung. Die feindlichen Truppen verschanzten sich in den matschigen Gräben an der deutsch-französischen und der Ost-Grenze. Der Krieg, der eigentlich schnell gewonnen sein sollte und zum Ersten Weltkrieg auswuchs, wurde zu einem grausamen Vernichtungskampf und einer zehrenden Materialschlacht. Nach und nach ging den deutschen Soldaten die Munition zur Neige. Das Deutsche Reich benötigte dringend neuen Nachschub. Mit dem Bau der Königlich Bayerischen Pulver- und Munitionsfabrik im Jahr 1915 wurde auch Dachau zu einem Akteur des Ersten Weltkriegs.

Die Fabrik war eine der größten und wichtigsten in ganz Bayern. Und brachte Dachau nach kurzem Aufschwung vor allem Not und Elend. Nach der Machtergreifung Hitlers bauten die Nazis im Jahr 1933 das damals schon verwahrloste Fabrikgebäude zum Konzentrationslager um. Bis zur Befreiung im Jahr 1945 starben dort schätzungsweise 40 000 Menschen. Dass die Munitionsfabrik bereits im Ersten Weltkrieg eine bedeutende Rolle spielte und schon damals indirekt für Tausende Todesopfer verantwortlich war, wissen heute viele Menschen gar nicht mehr.

Auf dem Gelände der Bereitschaftspolizei kann man noch vereinzelte Relikte der Dachauer Pulverfabrik sehen wie den alten Wasserturm. (Foto: Stefan Salger)

1200 russische Kriegsgefangene mussten das sumpfige und bewaldete Gebiet trockenlegen und roden

Die Nähe zu München, die Anbindung an das Bahngleis nach Ingolstadt und die gute Wasserversorgung durch die Flüsse Würm und Amper: Die Wahl des Oberstleutnants Johann Hofmann, der einen geeigneten Fabrikstandort finden sollte, fiel schnell auf Dachau. Auch die Zweifel des Dachauer Magistrats waren zügig beseitigt. Erhoffte man sich doch einen Zuzug neuer, steuerpflichtiger Arbeiter und damit einhergehend einen wirtschaftlichen Aufschwung für die ländlich geprägte Region. Im Mai 1915 begannen die ersten Vorbereitungsarbeiten.

Das einst als ideales Gelände auserkorene Gebiet erwies sich dabei zusehends als schwierig. Nur mühsam und mit vereinten Kräften konnten die Bauarbeiter, 1200 russische Kriegsgefangene, das sumpfige und bewaldete Gebiet trockenlegen und roden. Knapp ein Jahr nach dem Kriegseintritt, im Oktober 1915, wurde die Werksleitung der neuen Pulverfabrik, im Volksmund "Pumpf" genannt, eingesetzt. Zwei Monate später nahmen die ersten Arbeiter den Pulverbetrieb auf.

Es war ein gefährlicher und harter Beruf. Ein Sonderzug aus München brachte einen Großteil der Beschäftigten nach Dachau. Um sechs Uhr morgens begann deren Schicht und endete, nach neun Stunden Arbeit, einer Frühstücks-, Mittags- und Brotzeitpause, um 16.30 Uhr. Sie arbeiteten im Pulverpresswerk, in einem der Pulververmengungshäuser, der Pulverknethäuser oder im Vakuumtrockenhaus. Die einzelnen Gebäude waren auf dem weitläufigen Gelände verstreut und durch viele Bäume getarnt. Auch an Samstagen, und mitunter sogar an Sonn- und Feiertagen wurde gearbeitet.

Für die Arbeiter aus dem Dachauer Land war die Fabrik dennoch ein attraktiver Arbeitgeber. Sie hatten nun ein regelmäßiges Einkommen, das höher war als das in der Landwirtschaft. Etwa die Hälfte der Belegschaft stammte aus der Region. Gut bezahlt war die Arbeit dennoch nicht. Ein durchschnittlicher Fabrikarbeiter verdiente 37 Pfennige in der Stunde, Frauen sogar nur 20 Pfennige. Bis zu drei Stunden musste man arbeiten, ehe man sich eine Mahlzeit in der Betriebskantine leisten konnte. Und auch in der freien Wirtschaft war der Stundenlohn um ungefähr zehn Pfennige höher als in Dachau.

Die Fabrik entwickelte sich im Laufe der Kriegsjahre zu einem der größten Betriebe in ganz Oberbayern. Und zum finanzstärksten Munitionsbetrieb des Königreichs Bayern. 260 Millionen Mark setzte die Fabrik 1918 um. Im selben Jahr waren bis zu 6000 Menschen in der Fabrik beschäftigt. Da an den Fronten weiterhin die Munition knapp war, arbeitete man in Dachau im Akkord. Bis zu 8000 Tonnen Schießpulver benötigten die Soldaten jeden Monat. Die Fabrik wurde stetig ausgebaut, und bekam für die Produktion von Artillerie- und Infanteriemunition eine eigene Patronenfertigung und einen Schießplatz. Doch die Kapazitäten der Anlage konnten nie vollständig ausgereizt werden. Es fehlte an Arbeitern. Die Männer mussten den Kriegsdienst absolvieren, und so stieg der Anteil der Frauen bis auf die Hälfte der Belegschaft an. Zusätzlich zu ungefähr 400 000 Patronen pro Tag wurden in Dachau auch jeden Monat bis zu 470 Tonnen Pulver hergestellt.

Zwischen 1916 und 1918 ereigneten sich zehn schwere Unfälle in der Fabrik, bei denen Menschen starben

Jahrhundert-Themen im Münchner Umland. SZ-Serie. (Foto: N/A)

Entzündliche Lösemittel, die Sprengstoffe sowie ungeschulte Beschäftigte machten die Arbeit in der Dachauer Fabrik besonders gefährlich. Auf dem gesamten Gelände war das Rauchen strengstens verboten und wurde sogar mit Gefängnis bestraft. Vor allem die Kleidung der Arbeiter war der Grund für viele Unfälle, denn sie entsprach fast nie den Erfordernissen. Auch weil sie von der Fabrik nicht gestellt wurde und von den Arbeitern selbst besorgt werden musste. Zwischen den Jahren 1916 und 1918 ereigneten sich zehn schwere Unfälle in der Fabrik, sieben Menschen starben, sechs weitere wurden schwer verletzt. Das Unfallrisiko in Dachau war im reichsweiten Vergleich aller Munitionsbetriebe überdurchschnittlich hoch.

Innerhalb von nur zwei Jahren lebten 2000 Menschen mehr in Dachau

Im Laufe der Jahre zogen immer mehr Fabrikarbeiter nach Dachau. Während die Stadt in den ersten Jahren nach dem Bau der Fabrik einen wirtschaftlichen Aufschwung erfuhr und sogar die Neuverschuldung stoppen konnte, folgten schon bald schlechtere Jahre. Innerhalb von nur zwei Jahren lebten 2000 Menschen mehr im Stadtgebiet. Auf dem Fabrikgelände entstanden Baracken für die Arbeiter, ohne Strom, Wasser und Licht. Doch die reichten bei Weitem nicht aus. Die Lebensmittelversorgung brach immer wieder zusammen. Für die Kinder der zugezogenen Arbeiter war kein Platz in den Schulen. Lebensmitteldiebstähle und Wilderei waren an der Tagesordnung. Dachau war zu dieser Zeit von Unsicherheit geprägt.

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, im Jahr 1919, erstarkten die revolutionären Kräfte in Bayern. Mit dem Ausrufen der Räterepublik und dem Ende der Monarchie zog die "Rote Armee" auch in Dachau ein. Noch auf dem Weg in die Fabrik, im Pendlerzug, gründete ein Teil der Beschäftigten einen Arbeiterrat, der sich der Fabrik bemächtigte. Ein geregelter Betrieb war nun kaum mehr möglich.

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Die 1200 verbliebenen Beschäftigten stellten ihre Arbeit ein. Nach ersten Verhandlungen nahm die Fabrik Notstandsarbeiten auf, eine eigene Werksarmee hielt die Revolutionskämpfe von der Fabrik fern. Es dauerte jedoch nicht lange, bis die Fabrik im November 1919 geschlossen wurde. Damit begann die "Dachauer Not". Die Stadt wurde zum Ort mit der prozentual höchsten Arbeitslosigkeit im Reich. Und bot so auch den idealen Nährboden für die Nationalsozialisten. Heute ist das Gelände eine der bekanntesten KZ-Gedenkstätten, die jedes Jahr etwa 800 000 Menschen besuchen.

In der vierten Folge am Freitag geht es um das Walchenseekraftwerk in Kochel am See.

© SZ vom 04.01.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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