Süddeutsche Zeitung

Styroporkugeln an der Wand:Graffiti für Blinde

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Der Freisinger Künstler Alexis Dworsky übersetzt Wandmalereien, von denen viele Sehbehinderte gar nicht wissen, dass es sie gibt, in die Brailleschrift. Wie das geht, zeigt er beim Kulturfest "Mitanand".

Von Laura Dahmer, Freising

Man kennt sie als kleine Noppen auf der Medikamentenschachtel. In einer für die meisten Betrachter unergründlichen, geradlinigen Struktur übersetzt sie blinden Menschen das, was sie sonst nicht lesen können: Die Blindenschrift. Dass die großen, grauen Styroporkugeln auf einem Graffiti bei der Freisinger Stadtbibliothek den gleichen Zweck erfüllen, lässt sich auf den ersten Blick nicht vermuten. "Graffiti für Blinde" ist ein Projekt des bildenden Künstler Alexis Dworsky, der beim Kulturfestival "Mitanand" an diesem Wochenende ausstellt.

"Es fing mit einer ganz anderen Arbeit an", erzählt der Freisinger Künstler. Bei einer Inklusionsausstellung in München sei er mit Blinden durch die Stadt gelaufen. "Ich habe von Stadt und Werbung und Graffiti erzählt. Sie wussten überhaupt nicht, was das ist." Sprühkunst an Hauswänden, Werbeplakate an Bushaltestellen, anzügliche Sprüche an öffentlichen Toilettentüren - das war den Blinden völlig fremd. Da kam Dworsky die Idee, Graffiti und Klosprüche in die Brailleschrift zu übersetzen. "Mich hat das nicht mehr losgelassen, ich habe immer wieder Graffiti übersetzt. Jetzt zum ersten Mal in Freising, wo ich herkomme. Das freut mich besonders", bemerkt der Künstler. Für "Mitanand" hat er das Graffiti "Typology" bearbeitet, das Christian Leitner an die Hauswand bei der Bibliothek sprühte.

Der US-Amerikaner Kish entwickelte die Klicksonar-Technik, bei der Blinde mit dem Gaumen schnalzen. Doch Graffiti konnte er so nicht wahrnehmen

Meistens übersetzt er nicht in einem offiziellen Rahmen wie "Mitanand". "Sondern einfach irgendwo, wo ich Graffiti finde und es mich gerade reizt", erklärt Dworsky schmunzelnd. "Zum Beispiel irgendwo unter der Isarbrücke, wo kein Mensch hinkommt - erst recht kein blinder." Dass die Wandmalereien bei Blinden oft unbekannt sind, merkte der Graffiti-Übersetzer auch bei einem Treffen mit Daniel Kish. Der US-Amerikaner entwickelte die Klicksonar-Technik, bei der Blinde mit dem Gaumen schnalzen. Durch das zurückgeworfene Echo bekommen sie eine Vorstellung vom Raum.

"Das hat mich fasziniert, weil es zwar defizitär ist, aber auch etwas besser kann. Daniel kann so hören, ob eine Frucht reif ist. Graffiti konnte er aber nicht wahrnehmen, wusste nicht, dass es existiert", erzählt Dworsky. Also macht der Künstler diese Kunstform greifbar - überall in der Welt. Er schraubte Beton in Berlin fest, klebte mit halbierten Fußbällen in Barcelona, oder eben Styroporkugeln in Freising. In Mexiko will Dworsky demnächst mit Street Art-Künstlern arbeiten.

Brailleschrift musste er zum Übersetzen aber nicht lernen. "Es ist eine Schrift bei Word. Ich übersetze damit einfach von Arial in Braille", so der Freisinger. "Es wird Buchstabe für Buchstabe übersetzt, da kann nichts schiefgehen." Blind kann er seine eigenen Installationen so zwar nicht lesen, ein bisschen was wisse er aber trotzdem: Braille ist aufgebaut wie ein Würfel, sechs Punkte in zwei Dreiherreihen. Bei jedem Buchstaben fehlen andere Punkte, so wird das Alphabet codiert. "Es gibt schöne und hässliche Buchstaben. Das A ist ganz furchtbar: Einfach nur der erste Punkt oben links. Beim Graffiti klafft dann eine hässliche Lücke", stellt Dworsky fest. Am liebsten seien ihm Buchstaben mit möglichst vielen Punkten - wie das T. Von Blinden bekommt er auf das Projekt unterschiedliche Reaktionen. "Zuerst musste ich feststellen, dass sich nicht jeder Blinde dafür interessiert. Eigentlich ist es auch anmaßend, das zu denken: Nur weil jemand blind ist, interessiert er sich für Blindenschrift." Viele seien aber begeistert. Sein "Graffiti für Blinde" soll auch Sehende ansprechen. "Behinderungen sind oft Tabuthema, rufen schnell Betroffenheit hervor", so Dworsky. Das müsse überhaupt nicht sein: "Jemand, der blind ist, kann genauso mitten im Leben stehen. Jemand, der im Rollstuhl sitzt, kann ein lustiger Mensch sein. Das ist auch die Erfahrung, die ich damit gemacht habe."

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SZ vom 28.10.2017
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