Süddeutsche Zeitung

Gesundheitspolitik:Die Waisen der Medizin

Lesezeit: 2 min

Ein Jahr lang hat der Freisinger CSU-Politiker Erich Irlstorfer mit einer Kampagne den Fokus auf "seltene Krankheiten" gelenkt. Für die Betroffenen ist der Weg bis zu einer Diagnose häufig lang.

Von Petra Schnirch, Gammelsdorf

49 Veranstaltungen haben in den vergangenen zwölf Monaten stattgefunden, eine wird noch folgen. Das sind 50 Treffen, bei denen Menschen mit sogenannten seltenen Erkrankungen, ihre Probleme und Wünsche im Fokus standen und stehen. Am Freitag, genau ein Jahr nach dem Auftakt im Freisinger Schafhof, zog CSU-Bundestagsabgeordneter Erich Irlstorfer eine positive Bilanz der Kampagne in seinem Wahlkreis. Schlussstrich soll dies aber keiner sein. 2024 will der Gesundheitspolitiker das Thema auf nationale und europäische Ebene ziehen. Erster Schritt ist ein 60 Seiten umfassendes Weißbuch, eine Art Ist-Analyse, das im Frühjahr veröffentlicht werden soll.

Aktuell gibt es laut Bundesministerium für Bildung und Forschung etwa 6000 seltene Erkrankungen in Deutschland, etwa vier Millionen Menschen leiden in Deutschland an einer davon, in Bayern sind es 650 000. Keine kleine Zahl. Sie alle eint laut Irlstorfer aber, dass es bis zu einer Diagnose meist "viel zu lange dauert". Als selten gilt eine Krankheit, wenn nicht mehr als fünf von 10 000 Menschen davon betroffen sind, sie werden auch "Waisen der Medizin" genannt. Selbst viele Ärzte wissen wenig darüber, in der Wissenschaft gibt es Lücken. Forschen aber "hilft heilen", sagte Irlstorfer.

Bei einer Veranstaltung in Hallbergmoos beispielsweise ging es um das Alström-Syndrom, in ganz Bayern sind nur sechs Fälle bekannt. Die genetisch bedingte Krankheit bricht meist kurz nach der Geburt oder im Kleinkindalter aus. Die Kinder erblinden, verlieren nach und nach ihr Gehör - und sie haben ständig Hunger, weil sie kein Sättigungsgefühl mehr kennen. Ein Vater, der sich von seinem Arbeitgeber freistellen ließ, berichtete davon. Er will seinen zehnjährigen Sohn bis zu dessen Tod begleiten. Auf besonderen Wunsch des Buben, der wohl nicht älter als 16 oder 17 werden wird, ist im kommenden Jahr in Gammelsdorf eine Ausstellung seiner Bilder geplant. Das ist seine Ablenkung, denn Sport treiben kann er nicht.

Mit den Veranstaltungen habe man 2000 Menschen direkt erreicht, weitere 2500 auf digitalem Weg, schilderte Irlstorfer. Sie alle konnten erleben, was die Betroffenen durchmachen und wie sie "Höhen und Tiefen meistern". Schirmherrin der Kampagne ist die Stiftung des ehemaligen Bundespräsidenten Horst Köhler und seiner Frau Eva Luise. Auch zahlreiche Selbsthilfeorganisationen stehen dahinter.

Politiker und Politikerinnen aller Parteien unterstützten die Initiative, sagte Irlstorfer. Derzeit werde das Weißbuch erstellt, das im kommenden Jahr bei der Gesundheitsministerkonferenz überreicht werden soll. Darin wird für einige der seltenen Krankheiten aufgelistet, was gut läuft, wo es Verbesserungsbedarf gibt. Im Parlament seien kleine Anfragen und Anträge geplant. Ziel sei zudem ein fester Ansatz für seltene Krankheiten im Bundeshaushalt. Auch auf europäischer Ebene müsse der Austausch besser werden, so Irlstorfer. Um Spenden verbuchen zu können, soll ein Verein gegründet werden.

Bei den Betroffenen ist die Kampagne gut angekommen. Ruth Biller, Vorsitzende der Selbsthilfegruppe für ARVC, eine seltene genetische Herzerkrankung, sagte, dies sei eine "großartige Gelegenheit" gewesen, auf die Erkrankung hinzuweisen. Ihre 14 Jahre alte Tochter war an einem plötzlichen Herztod gestorben. Über den Betroffenen schwebe täglich ein Damoklesschwert. Auch Nicole Schwarzer vom Verein Soma bekräftigte, wie wichtig es sei, dass es ein Bewusstsein für diese Erkrankungen gebe - in ihrem Fall geht es um eine angeborene Fehlbildung im Darmbereich. Das Gesundheitssystem in Deutschland sei gut, "aber es gibt Lücken", sagte sie.

Jedes Mal, wenn ein Artikel über ARVC und ihre Selbsthilfegruppe erscheint, bekomme sie danach Anrufe - und bei einigen werde daraufhin die richtige Diagnose erstellt. Diese Öffentlichkeitsarbeit "ist für uns unglaublich wichtig", betonte Ruth Biller. Die Kampagne habe gezeigt, dass Politiker "nahbar, ansprechbar" seien, sagte Tobias Hagedorn, Geschäftsführer der Interessengemeinschaft für die angeborene Stoffwechselstörung Phenylketonurie. "Das ist ein Aspekt, den man nicht unterschätzen kann." Denn oftmals fühlten sich die Betroffenen "nicht gehört und nicht gesehen".

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.6316808
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.