Schwere Vorwürfe gegen ehemaliges  Knabenseminar:"Keine einzige schöne Erinnerung"

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In böser Erinnerung hat Hans Elas die Nikolausfeiern im Knabenseminar. Ihm zufolge durfte von älteren Schülern "ordentlich zugeschlagen werden".

(Foto: oh)

Hans Elas spricht von einem Klima der emotionalen Kälte, alltäglicher Gewalt und Unterdrückung. Zu denen, die das völlig anders sehen, gehört der frühere bayerische Kultusminister Hans Zehetmair

Von Gudrun Regelein, Freising

Schwere Vorwürfe gegen das frühere Freisinger Knabenseminar auf dem Domberg: Emotionale Kälte, das Gefühl des Verlassenseins, ein Klima der Unterdrückung und vor allem der seelischen Misshandlung hätten seine Zeit dort geprägt, sagt Hans Elas. Der 66-jährige Dorfener hat das "Kraut" Anfang der Sechzigerjahre besucht - und seine Schilderungen passen in das Bild, das sich heute, 50 Jahre später, vom Schicksal vieler Heimkinder zeichnen lässt. Erst Anfang Juli hat das Bundeskabinett die Aufstockung eines Hilfsfonds für Betroffene, die in einem Heim Opfer von Misshandlungen wurden, von 120 auf mehr als 300 Millionen Euro beschlossen. Viele Heimkinder hätten viel Unrecht erlitten und würden noch immer darunter leiden, räumte kürzlich Sozialstaatssekretär Johannes Hintersberger im bayerischen Landtag ein. Auch Hans Elas sagt, dass seine Zeit im Knabenseminar "tiefe Spuren" hinterlassen habe.

Minuten vergehen, in denen Elas nachdenkt. "Nein, da fällt mir nichts ein", sagt er schließlich. Er habe an seine Zeit im Freisinger Knabenseminar keine schöne Erinnerung - keine einzige. Knappe drei Schuljahre verbrachte er dort. Bis er rausgeworfen wurde. Er habe unter Hunger und im Winter unter Kälte gelitten. "Wegen uns hat man sich wenig Umstände gemacht. Wir waren ja nur Söhne von Bauern, Handwerkern und Kleingewerbetreibenden und sollten für den kirchlichen Nachwuchs herangezogen werden", erzählt er.

Sich über die Kirche oder Geistliche zu beschweren oder bei den Eltern zu beklagen, sei damals undenkbar gewesen: "Vom Pfarrer als Kind einfacher Leute ausgewählt zu werden und die Chance zur Bildung zu haben, war etwas ganz Besonderes." Vier Geschwister hatte er, seine Eltern besaßen eine kleine Landwirtschaft: "Zu Hause brauchte ich mit solchen Problemen nicht zu kommen."

Nach all den Jahren will er nun aber über diese Zeit - "den Missbrauch, den ich und viele meiner Mitschüler vor 50 Jahren erlebten" - sprechen. Auslöser sei das große "Krauterer-Treffen", das im Mai in den Räumen des 1972 geschlossenen Knabenseminars im heutigen Diözesanmuseum stattfand, sagt er. Über hundert der ehemaligen Seminaristen waren gekommen und hatten in schönen Erinnerungen geschwelgt - unter ihnen Hans Zehetmair, der frühere bayerische Kultusminister. Er sei als eines von sechs Kindern 1948 in das Knabenseminar gekommen, hatte Zehetmair bei dem Treffen berichtet: "Ich habe große Erinnerungen an meine Zeit hier. Vieles haben wir mitgenommen, vieles hat mir geholfen."

Auch heute noch, als er von den Vorwürfen Elas hört, bleibt Zehetmair bei seiner Darstellung. Er könne nur Positives berichten: "Ich habe die Wahrheit gesagt, so, wie ich sie empfunden habe", sagt Zehetmair. Von Rohheit habe er nie etwas verspürt, sei auch niemals gezüchtigt oder geschlagen worden. Er habe "nicht die Spur von Missbrauch" erlebt. Vorwürfe, es habe ein Klima der Unterdrückung geherrscht, Terror und Gewaltanwendung gegeben, empfinde er als "geradezu bösartig". Er beispielsweise hätte sonst keine Chance gehabt, ein Gymnasium zu besuchen und das Abitur zu machen. "Ich kam 1948 in das Freisinger Knabenseminar und habe mich in den neun Jahren, die ich dort verbrachte, wohl gefühlt", berichtet Zehetmair. Man solle lieber die authentischen Berichte, die die "Krauterer" bei dem Treffen gegeben hätten, ernst nehmen, sagt Zehetmair noch.

Er selber sei gar nicht zu diesem Treffen eingeladen worden, wundert sich dagegen Elas, und auch niemand, den er kenne - anders als das dargestellt wurde. Eventuelle Kritiker habe man wohl nicht dabei haben wollen: "Die Einladungsliste war selektiv."

Bernhard Kellner, Sprecher des Erzbischöflichen Ordinariats, weist das zurück. "Eine gezielte Auswahl unter ehemaligen Schülern des Knabenseminars für das sogenannte Krauterertreffen ist nach Auskunft des Diözesanmuseums Freising nicht erfolgt." Alle Ehemaligen seien eingeladen worden, deren Adressen heute noch ausfindig gemacht werden konnten, aber: "Es lagen nur lückenhafte Daten vor."

Das Erzbischöfliche Ordinariat in München habe erst durch die Anfrage der Freisinger SZ überhaupt von den Vorwürfen erfahren, sagt Kellner. "Entsprechend der Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz haben wir unmittelbar die Missbrauchsbeauftragten der Erzdiözese davon in Kenntnis gesetzt". Diesen würden bislang aber keine Informationen über die geschilderten Vorfälle vorliegen.

Hans Elas hat im Nachhinein gemerkt, dass im Seminar offenbar auch nützliche Beziehungen entstanden sind, ein Netzwerk: "Man ging später zur Partei und stellte fest, dass da andere sind, die man von früher her kennt und so hat einer den anderen mit hochgezogen." Einige der früheren Freisinger Schüler hätten es ganz schön weit gebracht, sagt er: Neben Zehetmair, der zunächst in Erding Landrat war und dann später Bayerns Kultusminister, war das beispielsweise Otto Wiesheu, der 1993 bayerischer Wirtschaftsminister wurde. "Die glorifizieren ihre Zeit im Knabenseminar, nach dem Motto: Es war zwar hart, hat mir aber nicht geschadet", so Elas.

Viele andere dagegen hätten die Defizite jener Zeit nicht mehr aufarbeiten können, seien aus der Bahn geworfen worden. Für Elas sind das Opfer, die an ihren Erlebnissen im Knabenseminar zerbrochen sind. Viele seien damals wegen Kleinigkeiten rausgeschmissen worden - "obwohl unser oberstes Prinzip war, uns immer unauffällig zu verhalten." Nicht wenige hätten ihr Leben danach nicht in den Griff bekommen, hätten ihr Abitur nicht mehr gemacht, seien Alkoholiker geworden oder hätten sich das Leben nehmen wollen. "Um diese geht es mir, an die denke ich."

Das Knabenseminar in Freising vergleicht Elas mit dem Kloster Scheyern: "das selbe Regime", sagt er nachdenklich. Auch dort habe es über Jahrzehnte ungehindert Gewaltanwendung gegen Schüler gegeben. Die im Freisinger Seminar erlebte emotionale Kälte, die alltägliche Gewalt und Unterdrückung sei für ihn ein Missbrauch Schutzbefohlener. "Auch das kann bei Kindern, die ja eigentlich Zuwendung bräuchten, schlimme Folgen haben."

Elas ist nicht der Einzige, der über schlimme Erfahrungen berichtet. Es gibt auch andere, wie den Lyriker und Erzähler Michael Groißmeier, der in seinem Buch "Der Zögling" in eindrucksvollen Worten seine Zeit in dem Freisinger Knabenseminar beschreibt. "Auf Jahre hinweg werde ich Heimweh haben und verzweifelt sein", schreibt er. Später schildert er ein "Gefühl der Verlassenheit und des Ausgeliefertseins an eine Ordnung, in deren Zwänge und Fänge ich so unbeabsichtigt und ahnungslos geraten bin".

Von den etwa 40 Schülern, die gemeinsam mit Elas ihre Zeit im Knabenseminar begannen, seien nur fünf tatsächlich bis zum Ende ihrer Schulzeit geblieben, erzählt Elas. So auch sein Freund, der Klassenprimus Maximilian Gipp. Aber auch dieser, der Klassenbeste, sei kurz nach seinem Abitur rausgeworfen worden - weil er, um zu feiern, an einem Abend heimlich das Seminar verlassen hatte. Gipp wurde später psychisch krank. "Der klerikale Barras war unter den Umständen grausam, weil du ein Kind warst", beschreibt er seine Zeit in dem Seminar. Mit hartem Druck sollten Kinder und Halbwüchsige zu Geistlichen erzogen werden. Ein Ziel, das aber gescheitert sei. Denn nur ganz vereinzelt hätten sich Absolventen für das Priesteramt entschieden. Hans Elas geht davon aus, dass er genau deshalb auch aus dem Knabenseminar geflogen ist. Als der Direktor erfahren habe, dass er gar nicht unbedingt Priester werden wollte, hätten ihn seine Eltern noch am selben Tag abholen müssen, so sein Bericht.

Elas ging trotz allem seinen Weg: In einem Spätberufenen-Seminar machte er 1970 sein Abitur, studierte Lehramt und war viele Jahre lang Hauptschullehrer. "Ich wollte Schule anders gestalten, als ich sie erlebt habe. Das hat mich dazu bewogen, Lehrer zu werden." Er habe ein Leben, mit dem er zufrieden sei, habe "gerade noch die Kurve gekratzt", sagt der 66-Jährige. Wenngleich er noch Jahrzehnte lang unter Angstgefühlen litt, große Angst vor der Dunkelheit hatte. Er habe die Zeit im Knabenseminar zwar verarbeitet, sagt Elas - aber immer wieder würden die schrecklichen Erinnerungen wach. Selbst als er viele Jahre später noch einmal die Räume des Knabenseminars, das damals schon nicht mehr existierte, besucht habe, habe er fluchtartig das Gebäude verlassen müssen - so lebendig seien die Erlebnisse jener Zeit plötzlich wieder gewesen.

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