Groß und mächtig steht es da, das Hauptportal des Freisinger Mariendoms. Ganz klein fühlt man sich vor diesem Stück in Stein gehauene Geschichte. Das Portal ist zusammen mit der Krypta der einzige noch sichtbare Teil des romanischen Dombaus aus der erste Hälfte des 8. Jahrhunderts. 1159 kam es zu einem verheerenden Brand. Der Dom und mit ihm fast die gesamte Bebauung auf dem Domberg wurden in Schutt und Asche gelegt, alles musste neu aufgebaut werden.
Worauf man in Freising heute besonders großen Wert legt, sind die kleinen Details an diesem Portal, das dem Feuer zwar standhalten konnte, aber im Laufe der Jahrhunderte immer wieder ausgebessert werden musste. Wer den Blick nach oben richtet, der sieht Figuren-Darstellungen: Das sind links - so wird es seit Jahrhunderten überliefert - Bischof Otto von Freising, daneben sein Neffe Kaiser Friedrich Barbarossa und rechts die Kaisergattin Beatrix. Unter ihr sitzt eine fette Kröte. Ein Symbol für Fruchtbarkeit, so sagt man, denn die Kaiserin hoffte lange auf einen Thronfolger. Der Kaiser soll seinen Onkel Otto beim Wiederaufbau des Domes nach dem großen Brand unterstützt haben. Darum muss die bärtige Figur mit blauem Gewand und Krone neben dem Herrn mit dem Krummstab einfach Barbarossa sein.
Doch es gibt jemanden, der diesen Teil der Freisinger Historie anzweifelt, sie sogar für ziemlich unwahrscheinlich hält. Privatdozent Romedio Schmitz-Esser, wissenschaftlicher Assistent am Historischen Seminar für Mittelalterliche Geschichte in München, vertritt zusammen mit seinem Kollegen Roman Deutinger die These, die Figur neben Otto sei gar nicht Barbarossa, sondern in Wahrheit ein in der Barockzeit umgedeuteter und umgestalteter König Salomo. Die gekrönte Dame auf der rechten Seite sei darum folgerichtig nicht Beatrix mit Kinderwunsch, sondern die Königin von Saba. Schmitz-Esser und Deutinger hatten diese These erstmals im März 2013 bei einer Tagung erläutert, die sich mit den bildlichen Darstellungen von Kaiser Barbarossa beschäftigte. "Wie Freising zu Barbarossa kam - zum Figurenprogramm am Westportal des Freisinger Doms" lautete ihr Vortragsthema, das demnächst auch in einem Tagungsband veröffentlicht wird.
Für manche Freisinger mag diese These eine Enttäuschung sein, zumal etliche Geschichtsbücher umgeschrieben werden müssten. Für Romedio Schmitz-Esser indes ist das Ganze "ein spannender Krimi". Warum wacht der weise König Salomo am romanischen Freisinger Domportal? Ganz einfach, sagt Schmitz-Esser. Zum Anlass des Kirchenbaus in der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts - und aus der Zeit stammt das Hauptportal - passe Salomon einfach viel besser. Der hat bekanntlich den ersten Tempel in Jerusalem errichten lassen. Man könne sagen, dass Salomo als Tempelbauer eine gute Wahl für ein Portal darstelle, so Schmitz-Esser. Daneben gebe es auch die andere Begründung. Salomo sei ein biblischer König gewesen, eine alttestamentliche Figur. In Kombination mit der Königin von Saba könne er als Synonym von Christus und Maria verstanden werden. Das, so Schmitz-Esser, wäre etwa logisch, wenn im alten Tympanon des Portals, also im oberen Bogen, vor der Restaurierung ursprünglich eine Marienkrönung oder eine Anbetung der Könige zu sehen gewesen wäre. Und bei einer Marienkirche wäre das nur wahrscheinlich gewesen.
Die Kröte ist nach Ansicht von Schmitz-Esser als Symbol der sündigen Welt zu verstehen, welche die Kirche bedroht, nicht als Symbol der Fruchtbarkeit. Dass die Kröte zusammen mit den ursprünglichen Figuren aus der Zeit vor der barocken Überarbeitung stamme, stehe ziemlich sicher fest, erklärt Schmitz-Esser. Allerdings sei es bemerkenswert, dass sie als einzige schwer beschädigte Figur nicht auch im Barock restauriert worden sei: In der Deutung der weiblichen Figur als Königin Beatrix mache die Kröte als Zeichen der Sünde allerdings keinen Sinn. Darum sei sie einfach als Fruchtbarkeitsbitte "in der lokalen Tradition" umgedeutet worden.
Für den Historiker Schmitz-Esser ist die Deutung der Figuren am Freisinger Domportal als Barbarossa und Beatrix nichts weiter als ein "PR-Gag des 17. Jahrhunderts". Damit habe man im Bistum Freising sagen wollen, "schaut her, wir sind wichtig". Wobei Schmitz-Esser die Bedeutsamkeit des einstigen Fürstbistums Freising natürlich keinesfalls schmälern will. Die sei unbestreitbar, sagt er, nur eben nicht in dem Umfang, wie man es sich damals gewünscht habe. Es gebe auch keinerlei dokumentarische Hinweise darauf, dass Barbarossa jemals als Kirchstifter in Erscheinung getreten sei, "und es gibt auch keinen Grund, warum wir das beim Freisinger Mariendom annehmen sollten", meint Romedio Schmitz-Esser.
Zweifel hat der Historiker an der engen Barbarossa-Freising-Beziehung auch wegen der Figur, die neben dem Herrscher zu sehen ist und die angeblich Bischof Otto sein soll. Der große Bischof Otto also, einer der bedeutendsten Geschichtsschreiber des Mittelalters und verbandelt mit den allerhöchsten Adelskreisen. Geboren wurde er 1112 oder 1113 als Sohn des österreichischen Markgrafen Leopold III. aus dem Haus der Babenberger und der salischen Kaisertochter Agnes. Kaiser Heinrich V. war sein Onkel, sein Bruder Heinrich II. Jasomirgott war Herzog von Österreich. Ein jüngerer Bruder namens Konrad wurde Bischof von Passau, später sogar Erzbischof von Salzburg. Und der römische Kaiser Friedrich I. Barbarossa war Ottos Neffe. Der Freisinger Bischof war also gut vernetzt. Otto spielte eine bedeutende Rolle auch in der Reichspolitik. 1147 nahm er als Heerführer am 2. Kreuzzug nach Kleinasien und Jerusalem teil. 1156 wirkte er vermittelnd im Streit der Welfen und Babenberger um Bayern. Er nahm an Reichstagen und mehreren Synoden in Salzburg teil und verhandelte 1145 im Auftrag seines Halbbruders König Konrad III. in Rom. 1157/58 schrieb Otto auf Bitten von Kaiser Barbarossa eine Geschichte der Stauferzeit, die "Gesta Friderici".
Bei der Bischofsdarstellung am Hauptportal nun öffnet sich das Gewand und ein Bein ragt hervor. "Ein so bedeutender Bischof, der sein Bein zeigt?", fragt sich Schmitz-Esser. "Das kann nicht sein." Er hält diese Figur darum für eine in der Barockzeit umgestaltete Beifigur der ursprünglichen Salomo-Darstellung. Für Schmitz-Esser steht auch deshalb fest: "Die Verbindung zwischen Freising und dem Staufer Barbarossa ist "eine Erfindung des 17. Jahrhunderts". Friedrich Barbarossa war in der Tat nicht unbedingt Wohltäter Freisings. Schließlich war er es, der 1158 als Kaiser mit dem "Augsburger Schiedsspruch" den Zollstreit zwischen Herzog Heinrich dem Löwen und dem Freisinger Fürstbischof Otto zugunsten des Welfen entschied, damit die Stadtgründung Münchens einleitete und den Niedergang des Fürstbistums Freising. Otto wurde das Geschäft mit dem Salzhandel an der Föhringer Brücke vermasselt. Aber an dem großen Otto von Freising, an dem gibt es nun wirklich nichts zu rütteln. Er wacht auch nach wie vor noch als überlebensgroße steinere Figur auf dem Domberg.
Am Mittwoch: Der Niedergang einer der größten Dynastien des 13. Jahrhunderts ist der Beginn der Andechser Wallfahrt.