Sagen und Mythen:Der Schimmel und die alten Götter

Pferd hinter hohem Gras

Ein Schimmel verirrte sich in eine Kapelle - die wurde für ein Jahr zugesperrt und das Tier verhungerte, heißt es. In der Hallertau gibt es unzählige so genannte Schimmelkapellen.

(Foto: dpa)

Gerade in der Hallertau gibt es auffällig viele Sagen über weiße Pferde. Mal verhungern sie in Kirchen, mal entführen sie Burschen, mal fliegen sie.

Von Peter Becker, Rudelzhausen

Schimmelkapellen gibt es viele in der Hallertau. Emmi Böck hat die Geschichten, die sich um sie ranken, in ihrem Buch "Sagen aus der Hallertau" beschrieben. "Die klassische", sagt Hans Neumaier, selbst Geschichtenerzähler, "kommt aus Enzelhausen". Die ehemals selbständige Gemeinde ist heute ein Ortsteil von Rudelzhausen am nördlichen Rand des Landkreises Freising. Dort steht auf einer kleinen Anhöhe über dem Abenstal ein Kirchlein, das dem Heiligen Stephanus geweiht ist.

Dort soll sich in einer Zeit, als die Hallertau noch dicht bewaldet und noch keine Spur des Hopfenanbaus zu sehen war, folgendes zugetragen haben. Am Prangertag, dem volkstümlichen Namen für Fronleichnam, hatten sechs Burschen einen Schimmel gestohlen. Den ließen sie frei herumlaufen. Das hungrige Tier fraß das Gras, das vor der Fronleichnamsprozession auf dem Weg ausgestreut worden war, und geriet in die offen stehende Kirche hinein. Dort fraß es die zarten Birkenblätter, mit denen die Gläubigen die Kapelle geschmückt hatten. Als der Mesner die Kirchentüre schloss, bemerkte er das Pferd nicht.

Vor dem Hopfenanbau war die Hallertau unwegsam und dicht bewaldet

Nun war die Enzelhausener Kapelle nur eine Filialkirche, in der nur einmal im Jahr ein Gottesdienst stattfand. Als der Mesner nach zwölf Monaten die Pforte wieder aufsperrte, fand er den Schimmel verhungert am Boden liegend vor. Ein zweite Version, die im Umlauf ist, erzählt, dass Pferdediebe auf der Flucht den Schimmel in der Kapelle bei Larsbach, das zu Wolnzach gehört, versteckt haben. Weil sie aber gefangen wurden, musste das Pferd elendiglich verhungern. Insgesamt, sagt Neumaier, gebe es wohl neun verschiedene Versionen der Sage, wohl ebenso viele, wie es Schimmelkapellen in der Hallertau gibt.

Schimmelkapelle Enzlhausen

Ob in der Enzelhausener Kapelle einst wirklich ein gestohlener Schimmel verhungert ist, weiß heute niemand mehr.

(Foto: Katharina Jaksch)

Dass es in dem Landstrich zwischen Donau und Isar so viele Sagen gibt, die sich um einen Schimmel ranken, ist laut Neumaier wenig verwunderlich. "Sie ist für die Hallertau typisch", sagt er. In der Zeit vor dem Hopfenanbau war die Gegend unwegsam, dicht bewaldet und von Feuchtgebieten durchzogen. Die Menschen, die dort meist auf Einödhöfen lebten, waren arm und standen im Ruf, ausgefuchste Pferdediebe zu sein. Ein Ross im Stall stellte in der Zeit vor der Mechanisierung der Landwirtschaft einen unschätzbaren Wert dar. Wer eines besaß, war reich. Wer ein Pferd stahl und auf einem der zahlreichen Märkte verkaufte, bekam gutes Geld dafür.

Damals befand sich ein großer überregionaler Rossmarkt in Moosburg an der Isar. Der Heilige der Stadt, Sankt Kastulus, stand im Ruf, der Schutzpatron der Rossdiebe zu sein. In Moosburg stand aber auch ein Galgen, an dem viele der Hallertauer Pferdediebe ihr Leben aushauchten. Der Moosburger Pfarrer Anton Nagel berichtet um 1790, dass an einem Tag generationenübergreifend Diebe aus einer Holledauer Familie dort hingerichtet wurden - vom Großvater bis zum Enkel. Weitere solcher Diebesnester haben sich laut Nagel in Straßhof am Hennenbach entlang, Großgundertshausen, Hebrontshausen, Grafendorf und Rudelzhausen befunden. In Sankt Alban bei Hörgertshausen fand ein großer Viehmarkt statt, bei dem die "armen Teufel" gestohlene Schafe, Geißböcke und Schweine verkauften. Die Hallertauer hatten ihren Ruf als Schelmenlandl weg, was sich in vielen Spottliedern ausdrückt.

"Pferde und Frauen sind teuer, nimm die Pferde, die sind treuer"

"Die Hallertauer waren immer schon pferdenarrisch", betont Neumaier. Er erinnert sich dabei an seinen Urgroßvater, der sich gern auf Fotos mit seinen schönen Rössern gezeigt habe. Hausierer und wandernde Handwerker wussten dies auszunutzen. Wenn sie auf dem Hof erschienen und die schönen Pferde lobten, bekamen sie eine Maß Bier geschenkt. Und in einer Tegernbacher Wirtschaft war der Spruch zu lesen: "Pferde und Frauen sind teuer, nimm die Pferde, die sind treuer."

Laut Neumaier haben die Schimmelsagen aber auch eine tiefer gehende Bedeutung. In ihnen spiegeln sich Christentum und Heidentum wieder. So ist beispielsweise das Kirchlein bei Enzelhausen dem heiligen Stephanus geweiht. In den germanischen Mythen reitet Wotan auf einem achtbeinigen Schimmel daher. Die Germanen und andere Völker feierten um diese Zeit die Wintersonnenwende, in denen sie ihrer höchsten Gottheit gedachten. Dieses Fest, meint Neumaier Bezug nehmend auf einen Aufsatz von Pater Hoffmann, hätten die Missionare zu Weihnachten umgeprägt. Pferdeumritte zeugen ebenfalls von religiösen Hintergründen. Die Reiter ziehen im Kreis um die Kirche, um den Segen festzuhalten.

Verhungerter Schimmel als Symbol für das Heidentum

"Der verhungerte Schimmel ist Symbol für das Heidentum, das untergegangen ist", meint Hoffmann. Neumaier fügt aber hinzu, dass er diese Behauptung "für sehr gewagt" hält. Eine weitere Sage aus Brandloh bei Pfettrach verdeutlicht den Sieg des Christentums über die heidnischen Vorstellungen laut Neumaier wesentlich deutlicher. Dabei geht es ebenfalls um einen Schimmel. Die Hauptrolle spielt ein Mann namens Georg, auf bairisch Girgl geheißen. Der hielt sich gern im Wirtshaus auf. In einer der Raunächte, also in der Zeit zwischen Weihnachten und Dreikönig, ging der Girgl spät nach Hause. Nach altem Volksglauben soll es in diesen Nächten nicht geheuer sein. Die Wilde Jagd zieht da mit ihrem Anführer Wotan als Wilder Jäger durch die Lüfte. Der Girgl bemerkt auf einmal, dass ein Schimmel neben ihm auf dem Weg herläuft. Irgendwann wird ihm der Fußmarsch zu beschwerlich. Er sitzt auf den Schimmel auf, der sich mit großem Spektakel in die Luft erhebt.

Die ganze Nacht muss der Girgl auf dem Schimmel dahinbrausen. Auf einmal erklingt aus den Tiefen unter ihm Glockengeläut. Der Schimmel wirft ihn ab und Girgl landet weich im Sand, unweit eines großen Wassers. Weil die Glocken als Symbol des Christentums rechtzeitig läuten, wirft der heidnische Schimmel den Hallertauer ab, bevor er über das Meer hinausgezogen wäre. Der Girgl, vor dem Ertrinken bewahrt, aber braucht ein Dreivierteljahr, bis er wieder zu Hause ist. Fortan trug er den Namen "Schimmelreiter-Girgl".

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