"Laskavo prosymo" steht auf dem Azurblau der abgedruckten ukrainischen Flagge geschrieben. Es ist etwas schwer zu lesen, weil das Bild so verpixelt ist. Darunter, auf gelblichem Gold, die deutsche Übersetzung "Herzlich Willkommen". Das DIN-A-4-große Schild weist durch eine Tür, die Treppen hoch, in das erste Obergeschoss, dahin wo die Nachbarschaftshilfe Neufahrn geflüchteten Familien aus der Ukraine jeden Montag einen Zufluchtsort bietet.
An diesem Montagnachmittag finden etwa 20 Ukrainerinnen und ihre Kinder ihren Weg in die Räume der Nachbarschaftshilfe. Vergangene Woche, beim ersten Treffen, waren es 70. "Es wurde so voll, dass wir gar nicht mehr wussten, wohin mit allen", sagt Helferin Juliane Fraunhofer-Ostermeier. Nach und nach stolpern Frauen und Kinder durch die offene Tür, an der ihnen die verschwommenen Abdrucke der ukrainischen Farben entgegenleuchten. Sabine Neubert schenkt ihnen einen Kaffee ein, sie hat das Treffen organisiert. "Ich wollte irgendwie helfen", sagt sie. Sie habe überlegt eine Familie aufzunehmen, das wolle sie auch noch immer, sollte eine Familie kein neues Zuhause finden. Der Treffpunkt schien ihr aber eine Lösung zu sein, um möglichst vielen zu helfen. Die Ukrainerinnen sollen die Möglichkeit haben, sich untereinander auszutauschen und sich bei Kaffee und Kuchen miteinander zu vernetzen.
"Viele haben sofort Telefonnummern ausgetauscht und bleiben jetzt auch weiter in Kontakt"
Beim ersten Treffen haben sich die Gesprächsthemen der Familien stark um die Flucht gedreht, erzählen Neubert und Fraunhofer-Ostermeier. "Viele haben sofort Telefonnummern ausgetauscht und bleiben jetzt auch weiter in Kontakt." Die Sprachbarriere zu den Helferinnen ist groß, keine der Ukrainerinnen spricht Englisch. In der vergangenen Woche habe es eine freiwillige Dolmetscherin gegeben, weil die aber an diesem Nachmittag nicht da ist, muss eine Übersetzungs-App herhalten.
Die Atmosphäre ist ausgelassen, wer sich umblickt, könnte fast vergessen, warum die Frauen und Kinder hier sind. Dann stimmt eine Ukrainerin ein nationales Lied an, sie singt es laut, sodass es durch die offenen Fenster bis auf den Lohweg zu hören ist. Nach etwa zwei Minuten klingt ihre Stimme aus, es wird geklatscht, gelacht und sich über die gänsehautüberzogenen Arme gerieben. Wovon der Song handelt, bleibt ihr Geheimnis. Neubert spricht in ihre App: "Das war schön gesungen". Sie zeigt es der Frau. Es sei ein Dankeschön für die Helferinnen gewesen, bekommt sie als Antwort zurück.
Die geflüchtete Liubov braucht keine Übersetzerin, sagt sie. In der Ukraine habe sie die deutsche Sprache ein klein wenig gelernt, in gebrochenen Satzteilen fängt sie an von sich zu erzählen. Nicht immer versteht Sabine Neubert auf Anhieb, was Liubov sagen möchte. Aber sie kann sich mitteilen, kann sagen, dass sie bereits jede Ecke Neufahrns zu Fuß erkundet hat, das Mintrachinger Feld und den Tennisplatz. Und dass ihr die Gemeinde gefällt. Sie kann sagen, dass sie sich gerne in der Natur aufhält, dass sie es liebt, schwimmen zugehen. Liubov wirkt munter und lebensfroh. Ihre Gedanken scheinen an diesem Nachmittag etwas weiter weg von ihrer stark umkämpften Heimatstadt Charkiw zu sein.
Besonders für die alltäglichen Fragen suchen die Familien die Nachbarschaftshilfe auf
Der Treffpunkt gibt den Familien Raum, auch für Fragen. Einmal hält eine Frau Sabine Neubert eine Blisterverpackung vor die Augen, in der stecknadelkopfgroße Batterien in einem Rad angeordnet sind. Daneben leuchtet die Übersetzer-App ihres Smartphones auf. "Ich habe eine ungewöhnliche Frage", steht dort für Sabine Neubert von russisch auf Deutsch übersetzt. "Wo kann ich Hörgerätbatterien finden?" Kurz herrscht Stille, Neubert überlegt. Über Hörgerätbatterien musste sie sich noch nie Gedanken machen. Es scheinen besonders die alltäglichen Fragen zu sein, auf die die geflüchteten Frauen in der Nachbarschaftshilfe Antwort suchen. Eine Helferin empfiehlt einen Hörgerätakustiker an der Bahnhofstraße. Den kenne sie, mit ihrer Mutter sei sie mal da gewesen. Die Adresse schreibt Neubert der Ukrainerin kurzerhand auf ein Schnipsel Papier und drückt es ihr in die Hand. Erleichterung.
Nicht immer können die Fragen so unkompliziert beantwortet werden. Eine Mutter benötigt eine Betreuung für ihr Kind, ihr Sohn ist sechs Jahre alt. Es gebe keine Angebote, ein Moment, in dem auch die Nachbarschaftshelferinnen für einen kurzen Augenblick machtlos sind. Einige Tage später wird sich die Nachbarschaftshilfe zusammenschließen und ein Betreuungsangebot für ukrainische Kinder im Alter von eins bis sechs Jahren vereinbaren. Nach den Osterferien sollen zwei Leihomas und eine ukrainisch sprechende Betreuerin in den Räumen des Kinderparks der Nachbarschaftshilfe die Mütter entlasten.
Auf dem Secondhand-Basar können sich die Frauen und Kinder kostenfrei bedienen
Weil viele Familien mit nicht mehr als ihrer Kleidung am Körper geflüchtet sind, können sich die Frauen und Kinder am Secondhand-Basar kostenfrei bedienen. Kleidung jeder Größe, Spielzeuge, Kuscheltiere, all das findet sich frei zugänglich und sortiert zwischen Holzregalen wieder. Der Basar habe sich schon gut geleert, sagt Neubert, Kleiderspenden seien deswegen in der Nachbarschaftshilfe noch immer gerne gesehen. Wie respektvoll die Treffpunktbesucherinnen mit der Hilfe umgehen, überrascht Neubert und Fraunhofer-Ostermeier immer wieder. Auf dem Basar werde jedes Kleidungsstück, das nicht benötigt wird, sorgsam zurückgelegt. Von der Handvoll deutscher Wörter, die die Geflüchteten schon gelernt haben, hören sie "Danke" besonders oft.
Finanziert wird der Treffpunkt von Spendengeld. In den Bürozeiten von Dienstags bis Donnerstag zwischen neun und elf Uhr werden diese angenommen. Den Kuchen sichert Gemeinderätin Silke Rößler (CSU) zu. Rößler wurde auf das Austauschtreffen über eine Ankündigung in der Zeitung aufmerksam, kontaktierte Neubert und bot sofort ihre Hilfe an. Auch in der kommenden Woche werden die süßen Teilchen von der Gemeinderätin organisiert.
Die Ukrainerinnen kommen und gehen, wie sie sich fühlen. Zu Fuß geht eine Mutter mit ihrer Tochter am späten Nachmittag wieder in ihre Unterkunft. Mit der rechten Hand umklammert sie die Henkel eines gelben Discounterbeutels, der dicht befüllt mit Secondhand-Kleidung ist. Vielleicht werden sie kommenden Montag wieder auf ein Stück Kuchen und eine Tasse Kaffee bei der Nachbarschaftshilfe vorbeischauen, vielleicht haben sie aber auch schon die Hilfe gefunden, die sie gesucht haben.