Süddeutsche Zeitung

Zeugen Jehovas:Eine Jugend im Käfig

Alexander Strobl hat den Zeugen Jehovas den Rücken gekehrt, danach war er erst einmal ziemlich allein. Beim "Stammtisch Sektenausstieg" erzählt er anderen Betroffenen, wie sich das angefühlt hat - und wie es ihm heute geht.

Von Alexander Kappen, Moosburg

Alexander Strobl weiß, wie es sich anfühlt, nach dem Ausstieg vor dem Nichts zu stehen. Der heute 43-Jährige, der nun in Moosburg lebt und am Flughafen arbeitet, wurde in eine Münchner Familie hinein geboren, die bis heute Mitglied bei den Zeugen Jehovas ist. Er wuchs "in Käfighaltung" auf, wie er selbst sagt, schaffte aber den Absprung. Nachdem er begonnen hatte, kritische Fragen zu der Organisation zu stellen und sich nach und nach von ihr gelöst hatte, wurde er vor 19 Jahren ausgeschlossen.

Als junger Mann Anfang 20 habe er "alles - Familie, Freunde und so weiter - zurückgelassen und mich durchs Leben geboxt", schildert er heute. Er hatte Glück. Eine befreundete Familie, die wie er bei den Zeugen Jehovas ausgestiegen war, sei ihm in dieser schwierigen Zeit ein starker Rückhalt gewesen und habe ihn aufgefangen. "Ich hätte es niemals geschafft, gäbe es nicht freundliche Mitmenschen, die mir damals die Hand reichten. Und daher sehe ich es als menschliche Selbstverständlichkeit, dies weiterzutun."

Konkret macht Strobl das mit seinem "Stammtisch Sektenausstieg", den er seit 2019 in Moosburg anbietet. Strobl, Vorstandsmitglied des bundesweit agierenden Vereins "Netzwerk Sektenausstieg", richtet sein Angebot an Menschen, die den Ausstieg aus Sekten, Kulten und destruktiven Gruppen beabsichtigen oder schon vollzogen haben und nun Ansprechpartner in der Welt "draußen" suchen.

"Wenn man draußen ist, steht man da ganz allein in der kalten Welt und hat gar nichts mehr", sagt Strobl. Vor allem keine Regeln mehr, nach denen man zuvor sein ganzes Leben ausgerichtet habe. "Man ist wie ein Kleinkind, das erst lernen muss, wie man sich richtig verhält." In Deutschland gelten die Zeugen Jehovas nicht als Sekte, sondern genießen den Status einer öffentlich-rechtlichen Religionsgesellschaft - inklusive Vergünstigungen bei Steuern, Abgaben und Gebühren sowie dem Recht, Kirchensteuer einzuziehen. Strobl sieht sie jedoch nicht einfach als irgendeine Religionsgemeinschaft. Er spricht von einem "Gedankengefängnis", in dem man dort eingesperrt sei.

Wissenschaft wird oft verteufelt

Es sei so, dass Sekten, Kulte und destruktive Gruppen immer versuchten, einen Keil zwischen normale zwischenmenschliche Beziehungen zu treiben. "Leider oft mit Erfolg", so Strobl. "Man wird separiert, spricht eine eigene Sprache - hat eigene Fachbegriffe - und wähnt sich als Hüter der ultimativen Wahrheit." Gleichzeitig werde versucht, über das Leben der Betroffenen Kontrolle auszuüben, Wissenschaft werde oft verteufelt. Es gehe darum, Sozialkontakte in die Welt draußen zu beschränken.

Bei den Zeugen sei auch politisches Engagement jeder Art verboten. Strobl, seit jeher politisch interessiert und heute bei den Linken aktiv, ging einst heimlich, mit Kapuze auf dem Kopf, zum Wählen. "Ich habe mich alle zwei Meter umgeschaut und hatte immer ein schlechtes Gewissen." Denn bei den Zeugen würden die Mitglieder quasi "programmiert". Das Schema sei einfach. "Weltmenschen", also Nicht-Zeugen, seien vom Satan verführt, so heißt es, und müssten gerettet werden. Daher gingen die Mitglieder von Tür zu Tür, um zu missionieren.

Ein neues Leben aufgebaut

Strobl hat sich nach dem Ausstieg ein neues Leben aufgebaut, ist verheiratet, hat zwei Töchter. Er maßt sich nicht an, anderen "da rauszuhelfen geschweige denn psychologische Hilfe anbieten zu können" - dafür hat er einen erfahrenen Psychologen im Hintergrund, auf den er verweisen kann. Primär gehe es darum, Aussteigern ein Signal zu senden, "dass sie eben nicht alleine sind. Weil, da ist jemand und der macht diesen Stammtisch, da kann oder könnte man hingehen". Es bleibe aber zumeist beim "könnte".

Auf seiner Plattform "Du bist nicht allein" (www.facebook.com/SektenausstiegMoosburg) meldeten sich viele Leute, "aber die allermeisten kommen nicht persönlich vorbei". Und wenn, dann kommen sie etwa aus Eggenfelden oder dem Kreis Rosenheim. Moosburger seien noch nicht dabei gewesen, so Strobl. Manchmal komme gar niemand. Aber es gehe auch nicht darum, auf möglichst viele Stammtischbesucher verweisen zu können, sagt Strobl. Er macht auf jeden Fall weiter. "Wenn es in zehn Jahren nur Einer ist, dem ich helfen kann, dann ist das auch schon was."

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SZ vom 15.01.2022/psc, kafe
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