Mitten im Leben:Geglückte Inklusion am Arbeitsplatz

Mitten im Leben: Armin Strasser ist IT-Spezialist am Flughafen.

Armin Strasser ist IT-Spezialist am Flughafen.

(Foto: Marco Einfeldt)

"Ich wollte so schnell wie möglich zurück ins normale Leben." Menschen mit Behinderung möchten arbeiten, doch die Suche nach einem Job ist oft schwierig. Trotzdem gibt es Beispiele, die Mut machen.

Von Laura Dahmer

Armin Strasser testet neue Software am Münchner Flughafen. Inna Huck ist für den Versand von Apothekenprodukten im Logistikbetrieb Tigers zuständig. Martin Hübner steht in den Isar-Sempt-Werkstätten am Fließband und verpackt Kataloge. Drei Arbeitsplätze, drei Tätigkeiten, drei Menschen. Die eigentlich gar nichts gemeinsam haben. Außer eines: Wenn man über ihre Arbeit spricht, redet man über Inklusion. Denn alle drei haben eine Behinderung, die ihren Arbeitsalltag erschweren kann - und Herausforderungen bringt, die sie gemeinsam mit ihrem Arbeitgeber meistern müssen.

Mehr als 20 Jahre schon arbeitet Armin Strasser in der IT-Abteilung des Flughafens München, inzwischen ist er Softwaretester und zuständig für Verkehrssysteme. Er kann sich gut an ihn erinnern, an den Tag, an dem, wie er sagt, alles noch gut war. "Es war mein erster Urlaubstag, unmittelbar vor der Fußball-WM 2006. Ich bin morgens auf mein Fahrrad gestiegen, auf dem Weg war eine Baustelle mit Straßensperrung. Ich war in Gedanken, habe überlegt, wie ich die umfahren kann", erzählt er. Strasser sitzt in seinem Büro, die rechte Hand liegt auf seinem Rollstuhl, sein Blick schweift ab. An diesem Tag prallte er, mit dem Kopf voraus, in einen Baustellen-Lastwagen.

Tetraplegie ist eine Form der Querschnittslähmung, von der alle vier Gliedmaßen betroffen sind

Durch den Unfall erlitt Strasser Tetraplegie, eine Form der Querschnittslähmung, von der alle vier Gliedmaßen betroffen sind. Er kann Arme und Oberkörper zwar noch bewegen, hat aber keine Handfunktion mehr. Was ihn nicht davon abgehalten hat, nach eineinhalb Jahren Krankenhaus und Reha in seinen Beruf zurückzukehren. "Ich wollte so schnell wie möglich zurück ins normale Leben - soweit das eben möglich war", erzählt Strasser.

Mit seiner Rückkehr kam auch Veränderung in die Büros seiner Abteilung: Im gesamten Haus wurden automatische Türen eingebaut, für den Informationstechniker gibt es einen Zugang aus der Tiefgarage, damit er nicht durch die Drehtür am Haupteingang muss. "Könnte interessant werden", sagt Strasser und lacht. Kommt man dann auf barrierefreiem Weg in sein Büro im fünften Stock, fällt als Erstes das Bett in den Blick, das dort an der Wand steht. "Das habe ich von der Krankenkasse bekommen", erklärt Strasser.

Der Techniker war noch zehn Tage vor seinem Unfall einen Marathon gelaufen

Er selbst nutzt es selten, den gebürtigen Dachauer packt meist eher Bewegungsdrang: In der Ecke des Raumes steht ein großer Punchingball, auf dem Schreibtisch eine kleine Version. "Die brauch ich für zwischendurch - um meine Arme zu bewegen und Aggressionen abzubauen", erklärt Strasser. Auch, dass sich die Behindertentoilette im Erdgeschoss des Gebäudes befindet, sieht der Techniker, der noch zehn Tage vor seinem Unfall einen Marathon gelaufen war, nicht als Belastung, "sondern als willkommenen Anlass, aus dem Büro herauszukommen und ein paar Meter zurückzulegen."

Auf dem Flughafengelände findet man Strasser nur zwei Tage die Woche. "Mein Arbeitgeber hat mir angeboten, den Rest der Woche zu Hause zu arbeiten. Das erspart mir einiges an Aufwand." Denn allein die Fahrt zum Büro kostet ihn viel Zeit: Wenn er morgens seine Wohnung in Augsburg verlässt, muss er zunächst in sein Auto kommen. Das wurde nach seinem Unfall umgebaut, damit der Techniker in seinem Rollstuhl hinter dem Steuer sitzen und mithilfe von Joysticks trotz der fehlenden Handfunktion fahren kann. "Das gibt mir viel Selbständigkeit zurück, ist aber nicht mal eben schnell gemacht. Schon das Ein- und Aussteigen dauert deutlich länger als bei anderen", schildert Strasser.

Er zieht sich eine metallene Klemme über den Handballen, damit kann er auf der Tastatur schreiben

Nicht nur der Weg zum Arbeitsplatz ist für ihn schwieriger geworden - die fehlende Funktion in seinen Händen macht seine Hauptbeschäftigung zur Herausforderung: das Tippen auf der Tastatur. Der Techniker macht vor, welche Lösung er dafür gefunden hat: Mit schnellen, gekonnten Bewegungen zieht er sich eine metallene Klemme über den Handballen. An ihr befindet sich ein Stab mit Gummiaufsatz, mit dem er die Tasten bedienen kann - quasi als Ersatz für seinen Zeigefinger. "Mittlerweile kann ich damit fast so schnell schreiben wie früher", stellt Strasser fest.

"Normal können sich meine Kollegen auf mich verlassen, ich mache fast keine Fehler"

Mitten im Leben: Martin Hübner ist in den Isar-Sempt-Werkstätten tätig.

Martin Hübner ist in den Isar-Sempt-Werkstätten tätig.

(Foto: Marco Einfeldt)

Ein Schicksalsschlag hat auch Martin Hübner getroffen. Und auch ihn hält das nicht vom Arbeiten ab. Eine laute Geräuschkulisse empfängt einen auf dem Weg zu Hübners Arbeitsplatz. In den weitläufigen Hallen der Isar-Sempt-Werkstätten in Freising werden Dübel verpackt, Kartons gefaltet, Vogelhäuschen gebaut und Elektroschrott zerlegt. Ganz hinten, in einer der letzten Hallen, trifft man auf den Mann mit dunkler Baseball-Cap und Drei-Tage-Bart: Gerade steht Hübner am Fließband, legt Kataloge zum Einschweißen bereit. Sie müssen anschließend abgezählt, mit Adressaufklebern versehen und in die richtige der gelben Postboxen gelegt werden.

Hübner schaut seinen Kollegen mit prüfendem Blick zu, er überwacht, dass alles seine Richtigkeit hat. Denn beim letzten Auftrag wurden die Postleitzahlen vertauscht und alles musste neu verpackt werden. "Da hab ich wohl zu schnell gearbeitet und nicht aufgepasst", stellt Hübner fest. "Normal können sich meine Kollegen auf mich verlassen, ich mache fast keine Fehler." Dieses Gefühl der Wertschätzung und des Vertrauens ist der Grund, warum der 41-Jährige seit fast 20 Jahren in den Isar-Sempt-Werkstätten arbeitet. Eigentlich wollte er an den ersten Arbeitsmarkt, hat nach der Schule etliche Praktika gemacht. "Ich habe Autoteile verpackt, Einfahrten gepflastert, war bei der Luftpostleitstelle am Flughafen", erzählt Hübner stolz. Nach dem letzten Praktikum war er dann acht Monate lang zu Hause, hat Bewerbungen geschrieben und nur Absagen erhalten. Am Ende ging er zu den Werkstätten. Ob er es heutzutage noch mal versuchen würde? Hübner wiegt den Kopf hin und her. "Eher nicht", sagt er schließlich. "In einem normalen Betrieb freuen sie sich meistens nicht, wenn ein Schwächerer kommt. Sie schauen auf dich herab und geben dir keine Verantwortung."

Als er geborgen wurde, hatte er sich durch die Kälte und den Sauerstoffmangel im Wasser eine Hirnhautentzündung zugezogen

Mit zehn Jahren war der heute 41-Jährige im Urlaub ins Wasser gestürzt, schwimmen konnte er damals nicht. Als er geborgen wurde, hatte Hübner sich durch die Kälte und den Sauerstoffmangel bereits eine Hirnhautentzündung zugezogen. Die hatte bleibende Schäden zur Folge, vor allem im Rechenzentrum seines Gehirns. Sein großer Berufstraum war geplatzt. "Ich wollte unbedingt Bundeswehrpilot werden", erzählt Martin Hübner mit leuchtenden Augen. "Aber die schwere Ausrüstung und die körperliche Anstrengung - das funktioniert einfach nicht." Nun arbeitet er in der Kunststoffabteilung der Isar-Sempt-Werkstätten. Dort fühlt er sich gut aufgenommen, die Arbeit macht ihm Spaß. Im vergangenen Jahr wurde er zum Vorsitzenden des Werkstattrates gewählt.

Mitarbeiter wie Hübner hat Geschäftsführer Albert Wittmann viele: Sie könnten es an den ersten Arbeitsmarkt schaffen - scheitern aber oft an den hohen Hürden. "Behinderten Menschen geht es genau wie allen anderen auch: Sie wollen arbeiten, Geld verdienen. Und die Bestätigung, gebraucht zu werden", beschreibt der Geschäftsführer. In den Werkstätten bekommen sie das. "Draußen", wie sowohl Hübner als auch Wittmann es nennen, nicht unbedingt. "Man kennt das aus der Schule: Der Schwächste wird im Sport als Letzter gewählt, bekommt keine Anerkennung. Am ersten Arbeitsmarkt ist das nicht anders." Damit Martin Hübner und seine Kollegen diese Anerkennung bekommen, gibt es die Isar-Sempt-Werkstätten, eine Einrichtung der Lebenshilfe.

"Unsere Kunden achten auf Preis, Termintreue und vor allem Qualität. Wir bekommen hier keinen sozialen Bonus"

Die Arbeit gibt Menschen mit Behinderung eine Tagesstruktur, in kleinen Einheiten und ohne Produktionsdruck werden Kundenaufträge bearbeitet: Während einer etwa mithilfe einer Schablone verschiedene Schrauben und Dübel zu einem Set zusammenstellt, verpackt ein Zweiter sie in einem kleinen Plastikbeutel. Ein Dritter legt diesen auf eine Kontrollwaage. Nur wenn der Beutel das richtige Gewicht hat, wandert er zur nächsten Station. "Unsere Kunden achten auf Preis, Termintreue und vor allem Qualität. Wir bekommen hier keinen sozialen Bonus", betont Wittmann. Die Arbeit dient seinen Mitarbeitern nicht nur als Beschäftigung, sie gibt ihnen auch die Möglichkeit, etwas zur Gesellschaft beizutragen.

Denn ihre Arbeitsleistung versteckt sich überall: in einem Karton Bier etwa, einer Tourenskibindung, dem Präzisionsgewehr eines Scharfschützen oder, wie in Hübners Fall, dem Modekatalog im eigenen Briefkasten. In all diesen Produkten hat die Isar-Sempt-Werkstätten Teile verbaut, zusammengeschraubt oder sie verpackt und verschickt. "Wer bei Ikea einen Bleistift mitnimmt, hat den praktisch von uns geklaut", ergänzt Wittmann schmunzelnd. Dass nicht alle 204 Mitarbeiter der Isar-Sempt-Werkstätten es an den ersten Arbeitsmarkt schaffen können, ist dem Geschäftsführer klar - auch, dass manche Unternehmen sich die damit verbundene Umstellung nicht leisten können. "Ich würde mir von Arbeitgebern trotzdem mehr Bereitschaft wünschen, den persönlichen Kontakt zu suchen und es einfach zu probieren."

"Wir haben lange überlegt, ob es funktionieren kann, eine gehörlose Person in unser Arbeitsumfeld zu integrieren"

Huck Melzer

Inna Huck arbeitet als Kommissioniererin bei Tigers.

(Foto: Privat)

Inna Hucks Personalchefin hat diese Bereitschaft gezeigt. Seit Mai 2017 arbeitet die Gehörlose in der Hallbergmooser Zentrale von Tigers, einem weltweit agierenden Unternehmen für Transportmanagement und Logistikdienstleistungen. Als Kommissioniererin versendet die 32-Jährige unter anderem Bachblüten an deutsche Apotheken. "Wir haben lange überlegt, ob es funktionieren kann, eine gehörlose Person in unser Arbeitsumfeld zu integrieren", erinnert sich Personalchefin Veronika Melzer.

Um die Kommunikationsprobleme zu umgehen, hat Huck statt eines normalen Bewerbungsgespräches eine Woche Probearbeit durchlaufen - und überzeugt. Zur Einarbeitung stellte die Arbeitsagentur der jungen Frau eine Dolmetscherin zur Seite. "Dank ihr habe ich erklären können, wie wichtig für mich Mimik, Körpersprache und Blickkontakt sind", erklärt Huck. Und wenn die Dolmetscherin nicht da ist? "Mit meinen Kollegen verständige ich mich mit Händen und Füßen, Wichtiges wird einfach aufgeschrieben."

"Frau Huck hat das soziale Leben im Unternehmen verändert. Durch sie haben wir ein stärkeres Gemeinschaftsgefühl", sagt die Personalchefin

Auch am Arbeitsplatz musste mit Hucks Einstellung einiges verändert werden: "Es sind wahnsinnig viele Details, über die man sonst nicht nachdenkt. Das fängt schon bei der Sprechanlage an der Eingangstür an", bemerkt Melzer. Inna Huck kam vor einigen Jahren aus Russland, dort hatte sie eine Ausbildung zur Damenschneiderin durchlaufen. Nach der Elternzeit wollte sie hier ins Berufsleben zurückkehren - ein schwieriges Unterfangen, wie sich schnell herausstellte.

"Die meisten Arbeitgeber hatten wohl Hemmungen, mich überhaupt einzuladen. Sie wussten wahrscheinlich nicht, wie sie überhaupt mit mir kommunizieren sollen", vermutet Huck. Veronika Melzer und Tigers hatten diese Hemmungen nicht. Und sind über ihre Entscheidung sehr glücklich: "Frau Huck hat das soziale Leben im Unternehmen verändert. Durch sie haben wir ein stärkeres Gemeinschaftsgefühl, ihre Einstellung war eine große Bereicherung", resümiert die Personalchefin zufrieden. Mittlerweile arbeiten bei Tigers weitere Menschen mit Behinderung. Auch dank Unterstützung der Arbeitsagentur, die nicht nur die Dolmetscherin gestellt hat, sondern darüber hinaus Hilfe und Betreuung bietet.

Aktuell gibt es in Freising 191 arbeitslose Menschen mit Behinderung, die bisher noch nicht die gleiche Chance erhalten haben wie Armin Strasser oder Inna Huck. Vielleicht geht ein Arbeitgeber am ersten Arbeitsmarkt auch einmal einen Schritt auf sie zu.

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