Mit Behinderung in den Ruhestand:"Dann kann ich baden, töpfern, turnen"

Senioren

Die Freisinger Lebenshilfe organisiert Aktivitäten speziell für Menschen mit Behinderung im Rentenalter.

(Foto: Arno Burgi/dpa)

Menschen mit Handicap fällt der Abschied vom Arbeitsleben oft besonders schwer, weil sie ihren Lebensmittelpunkt verlieren. Mit speziellen Angeboten will die Lebenshilfe verhindern, dass sie in ein Loch fallen.

Von Lea Wahode, Freising

"Ich freue mich so drauf, und wie!", sagt Georg Hochschwimmer, wenn man ihn nach seinem Ruhestand fragt: "Dann kann ich baden, töpfern, turnen und Krankengymnastik machen." In seinem Alltag in der Werkstatt habe er dafür nicht ausreichend Zeit. Hochschwimmer ist 60 Jahre alt und hat lange in der Montagegruppe der Isar-Sempt-Werkstätten GmbH (ISW) für Menschen mit geistiger Behinderung gearbeitet. Seit einigen Jahren ist er nun in der individuellen Arbeits- und Beschäftigungsgruppe (IBA), die zukünftigen Senioren den Übergang ins Rentenalter erleichtern soll.

Dass auch Menschen mit geistiger Behinderung immer länger leben und das Rentenalter erreichen, ist vor allem den Fortschritten der Medizin zu verdanken. Vor einigen Jahrzehnten sah die Situation jedoch auch aus historischen Gründen anders aus. Die Nationalsozialisten ermordeten Zehntausende Menschen, deren Leben sie wegen einer körperlichen oder geistigen Behinderung als nicht lebenswert einstuften. Am Ende des Zweiten Weltkriegs gab es in Deutschland deshalb kaum Menschen mit Handicap. Inzwischen ist, wie in der gesamten Gesellschaft, auch in der Lebenshilfe Freising der Anteil älterer Menschen gestiegen, sagt Pressesprecher Martin Weindl.

Die IBA ist die kleinste der elf Arbeitsgruppen der Werkstätten. Hier arbeiten zwölf Menschen, für die der Alltag in den Produktionsgruppen mit bis zu 35 Mitarbeitern zu anstrengend geworden ist. Dass sie von zwei heilpädagogischen Erzieherinnen begleitet werden, unterscheidet die IBA von den übrigen Gruppen. Dort leiten nicht Pädagogen, sondern Fachkräfte des jeweiligen Bereichs die Produktion.

Die Gruppe übernimmt Verpackungsarbeiten und kleine Montagen

"Ich packe ein," erklärt Hochschwimmer seine Arbeit. Zwei Schrauben und zwei Dübel kommen jeweils in ein Tütchen. Auf dem Küchentisch vor ihm stehen drei blaue Plastikbehälter, aus denen er die einzelnen Teile nimmt. Neben Verpackungsarbeiten stehen manchmal kleine Montagen auf dem Plan. Insgesamt habe die Gruppe aber viele Freiheiten, erzählt eine der beiden heilpädagogischen Erzieherinnen. Nachmittags unternehme man oft Spaziergänge, manchmal gehe es auch zum Kaffeetrinken. Ansonsten werde viel gespielt und gebastelt. Am Nebentisch malt Hochschwimmers Kollege bunte Vögel für den Frühlingsast, der schon an der Decke hängt. Wer sich ausruhen möchte, findet im Ruheraum Rückzugsmöglichkeiten und einen Platz zum Schlafen. Die IBA besteht seit 2000 und ist ein Versuch, dem steigenden Bedarf an Übergangsangeboten zwischen Werkstattalltag und Ruhestand gerecht zu werden.

Älteren Menschen soll die weitere Teilhabe am Arbeitsleben ermöglicht werden, ihre körperlichen und geistigen Fähigkeiten sollen erhalten bleiben. Die Vorbereitung auf den Ruhestand soll sie auch in psychischer Hinsicht entlasten. Denn Menschen mit geistiger Behinderung treffe der Abschied vom Arbeitsleben oft besonders hart, da sie weniger die Möglichkeit haben, Veränderungen im Alter zu verarbeiten und sich auf den Ruhestand vorzubereiten, erklärt Jeanette Buchberger vom Fachdienst Wohnen der Lebenshilfe.

Dass ein Loch entsteht, wenn die tägliche Arbeit wegfällt, will auch der Arbeitskreis "Übergang ins Rentenalter" verhindern. Schon fünf Jahre vor der Rente können älter werdende Menschen beim gemeinsamen Kochen, Wandern oder bei Bibliotheksbesuchen Gleichaltrige kennenlernen, neue Hobbys entdecken und so herausfinden, wie sie ihre Rentenzeit sinnvoll verbringen können. Zudem gibt es einen Stammtisch, bei dem sich Mitarbeiter verschiedener Werkstätten austauschen und neue Gruppen außerhalb der Arbeitsstelle bilden können. Wichtig sei auch, dass sie gemeinsam über ihre Sorgen bezüglich des Ruhestands sprechen, sagt Weindl. Viele hätten Angst davor, krank zu werden oder stellten sich Fragen zu praktischen Dingen wie einer Patientenverfügung. "Tut mir gut, mit anderen Rentnern zu reden," bestätigt Hochschwimmer.

Die Lebenshilfe Freising organisiert bisher fünf Tagesstrukturgruppen

Auch die Wohneinrichtungen müssen sich anpassen. "Es soll gute Möglichkeiten geben, am Tag etwas zu tun," fordern die Mitglieder des "Rates behinderter Menschen in der Lebenshilfe" in einem Positionspapier der Bundesvereinigung. Sie denken beispielsweise an Angebote in den Wohnhäusern. Bisher gibt es insgesamt fünf Tagesstrukturgruppen der Lebenshilfe Freising. Dabei stehe der Mensch mit seinen Bedürfnissen im Vordergrund, betont Weindl. Je nach Laune und Interesse der Rentner würden Aktivitäten organisiert, darunter seien auch Angebote außerhalb der Wohnhäuser. Dabei helfe vor allem die gute Vernetzung mit örtlichen Vereinen.

Immer wieder nehmen die Wohnhäuser auch Personen auf, die bis zum Tod der Eltern zu Hause wohnten. Das sei für die Betroffenen dann eine besonders schwere Situation, sagt Buchberger. Neben der Trauer müssten sich diese Menschen an ein neues Lebensumfeld gewöhnen. Jüngere Eltern sähen oft selbst, dass ihr Kind wie jedes andere erwachsen wird und ausziehen kann, und erleichterten ihren Kindern somit den Übergang.

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