Süddeutsche Zeitung

Systemrelevante Berufe im Landkreis:"Am Limit, seit Wochen"

Systemrelevante Berufe erfahren derzeit viel Anerkennung - das spiegelt sich aber nicht in den Gehältern wider. Die Gewerkschaft Verdi fordert eine Erhöhung der Löhne.

Von Thilo Schröder, Freising

Sie kassieren Waren im Supermarkt, messen den Blutdruck am Krankenbett oder transportieren Pakete von A nach B: Menschen, die in sogenannten "systemrelevanten Berufen" arbeiten. Die den Laden am Laufen halten, wie es derzeit von vielen Seiten anerkennend heißt. In den Hintergrund treten dabei die sozioökonomischen Realitäten in diesen Berufen, in denen sich, auch und gerade in Corona-Zeiten, eher wenig Anerkennung widerspiegelt: niedrige Gehälter, eine hohe Belastung, Überstunden. Eine Mehrheit der Berufe wird zudem überwiegend von Frauen ausgeübt. Der Landkreis Freising bildet da keine Ausnahme. Ein Streifzug durch drei Branchen.

Der Begriff "systemrelevant" nimmt in Diskussionen um die Grundversorgung in Pandemie-Zeiten zunächst viel Raum ein. Eine offizielle Liste, welche Berufe oder Wirtschaftszweige dazugehören sollen, gibt es im Freistaat dagegen nicht. Es bestehe "keine rechtliche Grundlage dafür, bestimmte Unternehmen, Branchen oder Berufe als systemrelevant einzustufen", teilt das Gesundheitsministerium auf Nachfrage mit. Im Corona-Kontext werde auf die "kritische Infrastruktur" ausschließlich im Hinblick auf die Notbetreuung von Kindern vor dem Hintergrund von Schulschließungen Bezug genommen.

Manche Branchen sind jedoch offenkundig elementar wichtig für die Versorgung. Etwa die Pflegebranche. Von den 940 Beschäftigten im Freisinger Klinikum seien über 300 in der Pflege tätig, so ein Sprecher der Gewerkschaft Verdi, bei einem Frauenanteil von 75 Prozent. Bei rund 2830 Euro liege der Einstiegslohn einer Pflegerin im öffentlichen Dienst, bis zum dem zehnten Jahr steige er auf etwa 3400 Euro. Durchschnittlich blieben Pfleger aber nur sieben Jahre im Beruf, viele stiegen aus aufgrund der hohen Belastung.

Niedriges Gehalt bei gleichzeitig hohen Mieten

Etwas höher liegen die Löhne auf der Intensivstation, eine zusätzlich mehrjährige Fachweiterbildung vorausgesetzt. Nach Verdi-Angaben beträgt das Einstiegsgehalt rund 3260 Euro, ab dem zehnten Berufsjahr gibt es knapp 3760 Euro.

"Die Löhne sind viel zu niedrig, insbesondere die Einstiegslöhne", kritisiert Christian Reischl, bei Verdi-München unter anderem zuständig für das Freisinger Klinikum. "Und die Mieten sind sehr hoch. Viele machen darum nur ihre Ausbildung im Raum München, arbeiten dann aber 50 bis 100 Kilometer weiter im Umkreis, das verschärft die Personallage in den Kliniken hier."

Ganz anders sieht zumindest die Geschlechterverteilung in der Logistikbranche aus. Beim Medikamente-Logistiker Trans-o-flex arbeiteten am Standort Freising 90 Prozent Männer (bei rund 90 Mitarbeitern insgesamt), so ein Verdi-Sprecher. Die Monatsgehälter lägen im kaufmännischen Bereich bei durchschnittlich 3000 Euro (Gehaltsspanne: 2040 bis 3710 Euro), im gewerblichen bei rund 2360 Euro (Spanne: 2240 bis 3180 Euro). "Dass die Gehälter der Logistikbranche durch die Gewinn-Optimierung der einzelnen Unternehmen vorwiegend Mindestlohncharakter haben, ist der breiten Masse nicht bekannt", sagt der Sprecher. Trans-o-flex sei hingegen tarifgebunden und habe einen starken Betriebsrat.

Für Angestellte im Handel ist die Lage derzeit besonders prekär

Prekär ist die Situation derzeit für viele Angestellte im Handel. Zuletzt wurde die Tariferhöhung ausgesetzt, erinnert Bernd Ohlmann, Sprecher des Bayerischen Handelsverbands. Zudem sind viele Geschäfte coronabedingt derzeit geschlossen. Laut Statistik der Arbeitsagentur Freising arbeitet etwa jeder achte sozialversicherungspflichtig Beschäftigte im Landkreis im Bereich Handel (Stand: 30. September 2019).

Freising hat ja diesen Charme einer Einkaufsstadt, das sind eher mittelständische und inhabergeführte Familienunternehmen, teils in der dritten oder vierten Generation", sagt Ohlmann. "Die großen Konzerne geben ja jetzt immerhin Einmalzahlungen. Der Einzelhandel kann da nicht mithalten." Gerade große Ketten fahren dieser Tage zum Teil Rekordumsätze ein.

Die Diskussionen um Wertschätzung merke man im Handel natürlich auch. "Kunden geben der Kassiererin etwa jetzt auch mal Trinkgeld", nennt Bernd Ohlmann ein Beispiel. "Die sind ja jetzt im Dauerstress, die sind am Limit, seit Wochen." Dazu kommen Ausnahmezustände vor Feiertagen. Die Personalstruktur: "Vor allem Frauen, eine hohe Teilzeitquote und Minijobs, um auf Kundenspitzen zu reagieren", sagt Ohlmann. Man habe zudem Kräfte aus der Gastronomie und Studierende übernommen. "Wir kommen ja kaum mit dem Regale Auffüllen nach." Ob die Wertschätzung gegenüber systemrelevanten Berufen nachhaltig sei? "Ich hoffe es", sagt Bernd Ohlmann. "Aber der Mensch vergisst ja leicht.."

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SZ vom 24.04.2020/nta
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