Kirchbergers Woche:Zu wenig Verkehrsdisziplin

In Sachen Verkehrsdisziplin scheint sich in Freising seit 1945 nicht viel geändert zu haben

Kolumne von Johann Kirchberger

Und nun gut aufgepasst: "Die Benützung der öffentlichen Verkehrswege ist bis auf Weiteres für die Allgemeinheit auf die Tagesstunden von 5 bis 21 Uhr beschränkt." Nein, das hat nichts mit der Corona-bedingten Ausgangssperre zu tun, die ist vor zwei Wochen aufgehoben wurde. Das ist im Wortlaut die Bekanntmachung Nr. 1 vom 26. Mai 1945 der Stadt Freising. "Wer diese Zeiten nicht genau einhält", hieß es in dieser "Bekanntmachung an die Bevölkerung", der "hat Festnahme durch die Militärpolizei der Alliierten zu gewärtigen". Da soll es in der Fischergasse eng geworden sein.

Ausnahmen gab es aber auch seinerzeit. Nicht für systemrelevante Berufe, diese Wortschöpfung gab es noch nicht, sondern für "im öffentlichen Dienst und zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung stehenden Personen wie Hilfspolizei, Ärzte, Hebammen, Krankenpfleger, Krankenpflegerinnen, Bedienstete der Elektrizitäts-, Gas- und Wasserwerke". Weitere Ausnahmen gab es für "Personen, die im Dienste der Ernährung (Milch-, Brot-, Fleisch- und Gemüseversorgung) stehen und für landwirtschaftliche Betriebsangehörige zur Bewirtschaftung von Wiesen, Äckern, Nutzgärten usw., die der Allgemeinheit dienen". Wer während der Ausgangssperre auf den Straßen unterwegs war, benötigte einen Sonderausweis, der im Rathaus auf Zimmer Nr. 3 zu beantragen war. Heute kann man in Zimmer Nr. 3 Schwerbehindertenausweise beantragen.

Interessant auch die Bekanntmachung Nr. 16 vom 20. September 1945. Damals gab der provisorisch eingesetzte Landrat Innerlohner auf Befehl der Militärregierung bekannt: "Es wurde vom Chef der Militärpolizei der 3. US-Armee gemeldet, dass die Bevölkerung des Landkreises Freising jegliche Verkehrsdisziplin bei der Benützung der Hauptstraßen vermissen lässt und so unnötige Verkehrsschwierigkeiten hervorruft." Aha, fehlende Verkehrsdisziplin. Da scheint sich seit 1945 nicht viel geändert zu haben. "Wenn nicht ab sofort fühlbare Besserung zu merken ist", so die damalige Drohung, "werden alle Hauptverkehrsstraßen zu Militärstraßen erklärt und für den zivilen Verkehr verboten". Ganz schön hart. Um heutzutage die disziplinlose Bevölkerung einzuschüchtern, müsste unser Landrat schon androhen, alle Hauptverkehrsstraßen als Fahrradstraßen auszuweisen. Da würden sich Angst und Schrecken breit machen.

An Fußgängerzonen dachte man damals nicht, eher im Gegenteil: "Die zivile Bevölkerung muss sich beim Begehen oder Befahren der Hauptstraßen auf der äußersten rechten Seite halten", schrieb der Landrat 1945. Und als weitere Drohung heißt es da: "Radfahrer müssen mit der Beschlagnahme ihrer Fahrräder rechnen, wenn zwei oder mehrere Radfahrer nebeneinander fahrend angetroffen werden". Das galt überall in Freising, nicht nur in der Adolf-Hitler-Straße und in der Hindenburgstraße, die am 23. August 1945, als diese Namen nicht mehr in die Zeit passten, erst in Captain-Snow-Straße und später in Obere und Untere Hauptstraße umbenannt wurden.

An einen niveaugleichen Ausbau, eine Begegnungsfläche, ein gleichberechtigtes Nebeneinander von Fußgängern, Radfahrern und Autofahrern, daran dachte damals keiner. Ein bisschen was hat sich doch geändert seit den Zeiten, als Freising versuchte, Krieg und Naziherrschaft zu vergessen oder zu verdrängen.

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