Süddeutsche Zeitung

Kirchbergers Woche:Im Selbstversuch durch den Tunnel

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Zwischen Lerchenfeld und Vötting hemmt nur eine einzige Ampel die Fahrt

Glosse von Johann Kirchberger

Wer wagt es, Knappersmann oder Ritt, zu schlunden in diesen Tauch?" Diese epochale Frage findet sich in den gesammelten Werken von Heinz Erhardt, die wir oft und gerne zu Rate ziehen. Zu den größten Wagnissen überhaupt gehören seit jeher Selbstversuche, vor allem im medizinischen Bereich, weil der Proband, wenn es schiefgeht, oft verloren ist. Auch ein gewisser Robert Koch hätte es beinahe nicht überlebt, als er sich einen von ihm erfundenen Impfstoff gegen Tuberkulose injizierte. Wäre er nicht in letzter Minute gerettet worden, hätte es womöglich das nach ihm benannte Institut nie gegeben, von dem wir täglich die neuesten Corona-Werte erfahren und wir hätten uns ganz auf Karl Lauterbach verlassen müssen. Ob der heuer den Nobelpreis bekommt ist noch nicht entschieden, Robert Koch hat ihn 1905 bekommen.

So gut wie entschieden ist dagegen, dass der Nobelpreis für herausragende Straßenbauleistungen wieder nicht an Franz Piller geht. Der Freisinger Tiefbauchef ist zwar nicht der Erfinder der Westtangente, aber er ist derjenige, der das Projekt entwickeln und realisieren durfte. Tapfer und unerschrocken ist er seit dem Baubeginn 2015 immer wieder vor die Stadträte getreten und hat verkündet, dass die Westtangente nun doch ein bisserl mehr koste als die früher geschätzten 70 Millionen Euro. Nun sind es 140 Millionen geworden, eine rekordverdächtige Steigerung. Ist aber halb so schlimm, weil 70 Prozent der Freistaat übernimmt und sich Stadt und Landkreis den Rest brüderlich teilen. Franz Piller hat auch etwas bekommen. Ihm wurde der Titel "Mister Westtangente" verliehen und den darf er mitnehmen, wenn er demnächst in den Ruhestand geht.

Seit zwei Wochen ist die Westtangente jetzt für den Verkehr freigegeben, höchste Zeit für einen Selbstversuch. Von Lerchenfeld zum Lerner nach Vötting soll es gehen. Also rein ins Auto, über die Schlüterbrücke und die Kreuzung mit der vormaligen B11, vorbei an der Abzweigung zur Angerstraße und mit Hurra hinein in die Röhre. Die ist zwar mit 705 Metern nicht ganz so lang wie der Tauerntunnel, macht aber einen zuverlässigen Eindruck. Am Straßenrand sind auch keine abgestellten Autos zu sehen, die Tunneltouristen machen offenbar Pause. Wieder mit Tageslicht geht es zum berühmten fünfarmigen Kreisel. Danach an der ersten Ausfahrt raus und zurück, nicht auf der Westtangente, sondern auf der parallel verlaufenden Gregor-Mendel-Straße und durch das Hochschulgelände bis zur Vöttinger Straße. Rechts abbiegen und man ist vor dem Gasthaus Lerner.

Der Selbstversuch muss als gelungen bezeichnet werden. Die Fahrt über die Westtangente ist zwar einen Kilometer länger als die altbekannte Route über B11, Saar-, Johannis- und Vöttinger Straße, aber man hat nur eine Ampel zu passieren. Und die Entlastung der Innenstadt? Da werde man noch einige Wochen abwarten müssen, heißt es. Also warten wir noch ein Weilchen, ob sich die 140 Millionen tatsächlich rentiert haben.

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Quelle:
SZ vom 22.01.2022
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