Inklusion am Arbeitsplatz:Die Talente sind entscheidend

Inklusion am Arbeitsplatz: Im Therapiezentrum Clemensänger zeigt die blinde Physiotherapeutin Stefanie Elsinger ihren Arbeitsalltag. Unser Bild zeigt (von links) Renate Rattenhuber, Ralf Holtzwart, Arbeitsministerin Kerstin Schreyer, Stefanie Elsinger, Thomas Rattenhuber und Karin Weber von der Agentur für Arbeit.

Im Therapiezentrum Clemensänger zeigt die blinde Physiotherapeutin Stefanie Elsinger ihren Arbeitsalltag. Unser Bild zeigt (von links) Renate Rattenhuber, Ralf Holtzwart, Arbeitsministerin Kerstin Schreyer, Stefanie Elsinger, Thomas Rattenhuber und Karin Weber von der Agentur für Arbeit.

(Foto: Marco Einfeldt)

Bayerns Arbeitsministerin Kerstin Schreyer wirbt bei einem Besuch im Therapiezentrum für die Inklusion am Arbeitsplatz. An die Betriebe richtet sich der ausdrückliche Appell, Menschen mit Behinderung eine Chance zu geben

Von Nora Schumann, Freising

"Warst du am Wochenende wieder wandern, Annette?" Stefanie Elsinger befühlt das Sprunggelenk ihrer Kollegin und lächelt. Die in Freising geborene Physiotherapeutin steht vor einer Liege und demonstriert ihre Fähigkeiten in der manuellen Therapie. Das Besondere daran: Stefanie Elsinger kann nur Umrisse und Farben sehen, ist also weitgehend blind.

Durch die Räume des Therapiezentrums Clemensänger in Freising bewegt sie sich dennoch mit schlafwandlerischer Sicherheit. "Patienten merken es manchmal erst bei der zweiten oder dritten Behandlung", sagt Elsinger schmunzelnd. Das Therapiezentrum wurde 2007 im Zuge einer Unternehmenserweiterung von den Söhnen der Familie Rattenhuber eröffnet. Derzeit arbeiten zwei Menschen mit Behinderung im Therapiezentrum, Nobert Müller seit 2014 und Stefanie Elsinger seit 2018. Beide sind blind. Senior-Chef Thomas Rattenhuber ist selbst in Behandlung bei Stefanie Elsinger und sieht Vorteile in der visuellen Einschränkung. "Ich bin der Meinung, es wird wunderbar kompensiert durch ein ausgeprägtes Tastgefühl", so Rattenhuber.

Das Therapiezentrum ist am Mittwoch im Zuge der Themenwoche "Inklusion am Arbeitsplatz - gemeinsam verschieden sein - eine Chance zur Fachkräftesicherung" von Bayerns Arbeits-und Sozialministerin Kerstin Schreyer besucht worden. Schreyer ist der Ansicht, dass zu defizitorientiert gedacht und bei Menschen mit Behinderung immer zunächst nur die Behinderung wahrgenommen wird. Die gelernte Sozialpädagogin argumentiert auch aus wirtschaftlicher Sicht: "Wir müssen in der Gesellschaft viel stärker die Ressourcen sehen, die Menschen haben".

Arbeitgeber hätten oft Hemmungen, Menschen mit Beeinträchtigungen einzustellen, weil sie einen höheren Kündigungsschutz fürchteten. Dabei würden Menschen mit Behinderung keine anderen Arbeitnehmerrechte als Beschäftigte ohne Behinderung genießen. Lediglich die Behinderung selbst gelte nicht als Kündigungsgrund, da sie bereits zum Einstellungsbeginn bekannt war, so Schreyer.

Ralf Holtzwart, Vorsitzender der Geschäftsführung der Regionaldirektion Bayern der Bundesagentur für Arbeit, hält die Befürchtungen für einen Vorwand der Arbeitgeber. Im Jahr 2013 lebten in Deutschland rund 10,2 Millionen Menschen mit einer amtlich anerkannten Behinderung. 57 Prozent der behinderten Menschen hätten eine abgeschlossenen Berufsausbildung, damit sei die Qualifikationsstruktur besser als bei Menschen ohne Behinderung.

"Ich würde mich freuen, wenn sich mehr Arbeitgeber trauen würden, den Menschen eine Chance zu geben", so Holtzwart. Er sieht die Problematik auch bei großen Firmen mit Beschäftigungspflicht für behinderte Menschen. Rund zwei Drittel der Firmen kämen ihrer Beschäftigungspflicht nicht nach und, was ihn "geradezu schockiert", ein Drittel der öffentlichen Arbeitgeber auch nicht. Die Appelle an die Arbeitgeber hätten bisher nicht gewirkt, darum müsse die öffentliche Hand mit gutem Beispiel vorangehen. Bessere Aufklärung und bessere Information sei hier von Nöten.

Stefanie Elsinger hat ihre Ausbildung am Bildungszentrum für Blinde und Sehbehinderte in Nürnberg absolviert, die einzige Schule dieser Art in Bayern. Mut zur Bewerbung im Therapiezentrum machte Elsinger die Tatsache, dass dort bereits ein blinder Mitarbeiter angestellt war. Am besten an ihrer Arbeit gefällt ihr deren Vielfältigkeit und die Stimmung im Team. "Wenn ich Fragen habe, stehen die Kolleginnen und Kollegen mir immer zur Verfügung oder zeigen mir zum Beispiel Übungen", so Elsinger. Auch die Patienten und Patientinnen seien sehr hilfsbereit.

Die Dokumentation der Therapien übernehmen die Kolleginnen, sie schicken Stefanie Elsinger auch ihren Terminplan für den nächsten Tag per E-Mail. Zuhause lässt sich Elsinger die Mail von ihrem Computer mit Sprachausgabe vorlesen, spricht die Termine und die Krankheitsbilder in ein Diktiergerät und weiß so am nächsten Tag genau, wer wann zu ihr in Behandlung kommt. Mit dem Therapiezentrum hat sie sich geeinigt, keinen speziellen Computer für den Arbeitsplatz anzuschaffen. Dies sei nicht unbedingt nötig, so Elsinger. Viel besser fände sie da andere Anschaffungen wie etwa ein spezielles Blutdruckmessgerät oder eine Uhr, die ihr drei Minuten vor Behandlungsende ein Signal gibt.

Für solche Anschaffungen gibt es finanzielle Förderungen von der Arbeitsagentur. Karin Weber, Chefin der Agentur für Arbeit in Freising, sendet einen ausdrücklichen Appell an die Freisinger Betriebe: "Wenn wir auf die Betriebe zugehen, dann haben wir die Bewerber nach ihren Talenten ausgesucht, nicht nach den Einschränkungen." Es gäbe zudem das Angebot eines Technischen Beraters, der hilft, Arbeitsplätze individuell behindertengerecht auszustatten, sowie die Möglichkeit von langfristigen Eingliederungszuschüssen.

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