Hey ho, let´s go:Jeder auf seine Art enthemmt

Thomas Kraft erzählt in seinen "Punk Stories" auch von den gloriosen Zeiten des Circus Gammelsdorf

Peter Becker

Punk fasziniert - das war vor 35 Jahren so, als der Musikstil von London aus mit Bands wie den Sex Pistols, The Clash oder The Damned seinen Siegeszug um die Welt antrat. Und es ist auch heute noch so, sonst wären am Dienstagabend nicht alle Stühle besetzt gewesen, die die Buchhandlung Pustet für ihr Auditorium bereitgestellt hatte. Thomas Kraft, einer der Herausgeber der "Punk Stories", las dort ausgewählte Kurzgeschichten aus dem Buch vor. Autoren aller Altersgruppen beschreiben in diesem, wie und zu welcher Zeit sie mit Punk in Berührung gekommen sind.

Kraft und das Publikum hatten eins gemeinsam: Alle sind im bürgerlichen Leben angekommen. Keiner erschien in verwegenem Outfit, mit bunt gefärbten Irokesen oder Sicherheitsnadel in der Backe. Der Herausgeber der "Punk Stories" gestand: "Mich selbst hat Punk nur gestreift." In Bamberg aufgewachsen, bestand die musikalische Genese des 1959 geborenen Kraft aus dem Programm des Militärsenders AFN: Wolfman Jack und den American Top 40 mit Casey Kasem. Da gab es definitiv keinen Punk zu hören, sondern nur Country, Soul, Disco und das Genre, das heutzutage als Classic Rock bezeichnet wird.

Mit Punk kam Kraft allenfalls auf einer Schulfahrten nach Berlin in Berührung, wobei ein Streifzug durch die Hausbesetzerszene in Kreuzberg geradezu als Pflicht galt. Der Herausgeber erscheint auch selbst mit einem Beitrag mit dem Titel "Buntspechte". Darin erzählt er von der rührigen Punkszene im Münchner Umland, dem Circus Gammelsdorf und der "Post" in Ampermoching. Dort traten Bands wie Abwärts, Lustfinger, Straßenjungs, Tuxedo Moon oder UK Subs auf. Im Gegensatz zur Landeshauptstadt tobte dort der Pogo - zum Verdruss der Landbevölkerung. Nicht umsonst geht das Gerücht, dass es die Gammelsdorfer Feuerwehr Mitte der 1990er Jahre gemütlich angehen ließ, als der Circus brannte. Kraft beschrieb, wie er in München zum ersten Mal die United Balls sah, eine Fun-Punkband, die 1982 zur Hoch-Zeit der Neuen Deutschen Welle auch den Freisinger Lindenkeller zum Toben brachte.

Wie Punks sahen die nicht gerade aus", schreibt Kraft. Aber wie sollen Punks schon aussehen? Das Klischee, dass jeder mit Irokesen, abgefuckter Kleidung und Bierdose in der Hand Leute anpöbelnd durch die Gegend laufen muss, greift zu kurz. Präziser beschreibt ein Satz, der im Vorwort steht, das breite Spektrum: "Land- und Stadtpunks, Mitläufer, Loser, Hänger, Abgedrehte, Sauf- und Drogenfreaks, straighte Puristen oder stille Wasser, die kaum etwas zu rühren scheint, kurz: mehr oder weniger Enthemmte jeder Art."

Genauso verschieden sind die 56 Geschichten der Autoren, die sich in der Kurzgeschichten-Sammlung verewigten. Sie erzählen aus der Berliner Hausbesetzer-Szene ebenso wie von Landpunks, die auszogen, um in einer Bauwagen-Kolonie die große Freiheit zu finden und auf einmal mit einer strikten Hausordnung konfrontiert wurden. In der war haarklein geregelt, wer wann einkaufen oder den Abwasch erledigen musste.

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