Die Odyssee der Schwestern Fatima und Shabnam H. (Namen geändert) dauert nun schon fast zwölf Monate, obwohl sie zwischendurch glaubten, angekommen zu sein. Gleich zwei Mal mussten sie aus Kampfgebieten flüchten, einmal aus ihrer Heimat Afghanistan, das zweite Mal aus der Ukraine. Seit gut einem Monat leben die beiden nun in einer Flüchtlingsunterkunft in der Gemeinde Rudelzhausen. Noch immer kämpfen sie darum, möglichst bald wieder ein normales Leben führen zu können und die gleichen Rechte zu erhalten wie andere Geflüchtete aus der Ukraine. Eine entscheidende Schaltstelle dabei ist das Landratsamt Freising.
Die beiden Schwestern, 24 und 26 Jahre alt, sind selbstbewusste junge Frauen, sie tragen Jeans und weiße Shirts, der jüngeren fallen die lockigen schwarzen Haare über die Schultern, die ältere hat sie zu einem kunstvollen Dutt hochgesteckt. Wenn sie in fließendem Englisch ihre Geschichte erzählen, sprudelt es aus ihnen heraus, nur als sie ihre Mutter erwähnen, stocken sie kurz und kämpfen mit den Tränen. Als Flugbegleiterinnen waren Fatima und Shabnam H. in Afghanistan in den sozialen Medien bekannte Gesichter, sie gehörten auch der ersten rein weiblichen Crew an. Nebenbei, so erzählen sie, studierten sie Betriebswirtschaftslehre - bis die Taliban wieder an die Macht kamen. Als die bewaffneten Milizen Kabul einnahmen, war den jungen Frauen klar, dass sie flüchten mussten. Fatima und Shabnam H. zählten zu den wenigen, die es im August 2021 im allgemeinen Chaos am Flughafen in Kabul schafften, an Bord eines Flugzeugs zu gelangen. Das Ziel erfuhren sie erst an Bord kurz vor dem Abflug: Kiew.
Sieben Monate später holte sie auch dort der Krieg ein. Mit Hilfe eines Nachbarn gelang ihnen am 25. Februar, direkt nach Beginn der russischen Angriffe, ein weiteres Mal die Flucht, über Lwiw nach Berlin. Das Heulen der Sirenen hat Shabnam H. noch immer auf ihrem Smartphone gespeichert. Ihre Schwester sei damals kurzzeitig gelähmt gewesen vor Schreck, erzählt sie. Nach mehreren Zwischenstationen in Münchner Flüchtlingsheimen und in Fürstenfeldbruck wurden die beiden Anfang Juli in den Landkreis Freising verlegt. Seither kämpfen sie darum, wie andere Geflüchtete aus der Ukraine eine unbürokratische "Aufenthaltsgewährung zum vorübergehenden Schutz" zu erhalten, einen Status, der dazu berechtigt, gleich arbeiten zu dürfen. Anders als bei einem langwierigen Asylverfahren.
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Dass Paragraph 24 des Aufenthaltsgesetzes nach Einschätzung des Landratsamts Freising für die beiden nicht gelten soll, kann die FDP-Landtagsabgeordnete Julika Sandt nicht nachvollziehen. Sie war bei einem Besuch im Ankerzentrum in Fürstenfeldbruck Anfang Mai auf das Schicksal der jungen Frauen aufmerksam geworden und unterstützt sie seither. Sie habe schnell gemerkt, dass das ein ganz einzigartiger Fall sei, sagt Sandt. Die beiden hätten es mit viel Energie und Selbstbewusstsein in ihrem Land geschafft und viel geleistet. "Diese Role-Models sind beispielhaft für den Aufstieg von Frauen in Afghanistan und waren sicher im Visier der Taliban." Sandt ist überzeugt, "die beiden wären auch für unser Land ein Riesengewinn".
In der Unterkunft gibt es weder Handyempfang noch Wlan
Vorerst aber müssen die Schwestern vor allem eins: warten. Ihren Deutschkurs in München mussten sie nach dem Umzug in die Gemeinde Rudelzhausen abbrechen, in der Unterkunft bewohnen sie ein kleines Zimmer: zwei Betten, zwei Metallspinde, ein Tisch, zwei Stühle. 23 Männer, Frauen und Kinder teilen sich in dem Wohnhaus ein Bad mit Schimmel an der Decke und zwei Toiletten. Handyempfang und Wlan: Fehlanzeige. Eine Fortsetzung der in Fürstenfeldbruck begonnenen psychologischen Behandlung der traumatisierten Frauen wird durch die abgelegene Lage erschwert. "Wir verlieren unsere Zeit, für nichts", sagt Shabnam H., die ungleiche Behandlung sei nicht fair. Sie wünscht sich für alle Geflüchteten, dass ihre Fälle individuell betrachtet werden.
Für das Landratsamt ist die Sache eindeutig: "Durch die dem Landratsamt Freising vorgelegten Dokumente konnte kein rechtmäßiger Aufenthalt in der Ukraine nachgewiesen werden. Laut Weisungslage kommt daher die Ausstellung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 24 AufenthG nicht in Betracht", heißt es in einer Stellungnahme. Dieses Vorgehen sei mit der Regierung von Oberbayern und dem bayerischen Innenministerium abgestimmt. Dort eingereichte gleichlautende Anfragen seien bereits "in diesem Sinne beantwortet."
Julika Sandt sieht dies ganz anders. In einem Brief an Innenminister Joachim Herrmann schreibt sie, dass sie mit mehreren Juristen gesprochen habe, die alle zu einem anderen Schluss kämen. Sie habe die Originaldokumente von Fatima und Shabnam H. aus der Ukraine übersetzen lassen. Es handele sich um eine Flüchtlingsbescheinigung, die noch bis zum 10. März 2022 gültig gewesen wäre. Damit hätten sie sich sehr wohl rechtmäßig in der Ukraine aufgehalten, schreibt Sandt. "Nach unserer Rechtsauffassung spricht folglich nichts gegen eine Genehmigung eines Aufenthaltes nach § 24 AufenthG."
Steuernummern hatten die Schwestern in Kiew schon
Denn das Bundesinnenministerium informierte die zuständigen Ministerien in einem Schreiben vom 14. April darüber, dass dieser Paragraf auch für Angehörige anderer Staaten, die sich rechtmäßig in der Ukraine aufhielten, Geltung habe, wenn diese sich nicht nur zu einem "vorübergehenden Kurzaufenthalt" in dem Land befunden haben und nicht sicher und dauerhaft in ihr Herkunftsland zurückkehren können.
In der weiteren Erläuterung dazu heißt es ausdrücklich: "Erfasst sind damit auch Personen, die glaubhaft machen können, dass sie sich zu einem nicht nur vorübergehenden Aufenthalt rechtmäßig in der Ukraine aufgehalten haben, aber ihren Schutzstatus oder dauerhaften Aufenthaltstitel zum 24. Februar 2022 noch nicht erlangen konnten". Umfasst seien insbesondere Studierende und Personen mit Aufenthalten in der Ukraine "zu nicht nur besuchsartigen oder kurzfristigen Erwerbszwecken".
Auch CNN berichtete über den Fall der beiden Frauen
Auch in Kiew waren die Schwestern gerade dabei, Fuß zu fassen, wie sie schildern. Sie hätten bereits Steuernummern bekommen, sagt Shabnam H., und die Zusage, für eine ukrainische Airline arbeiten zu können, das Training sollte in Kürze beginnen. Kurz vor ihrer zweiten Flucht berichtete sogar CNN über die beiden Afghaninnen - und dass sie in ihrer Wahlheimat erneut in einen Konflikt verwickelt werden könnten. Nach diesem Beitrag hätten Verwandte aus Kabul vor den Taliban flüchten müssen, sagt die 26-Jährige. Deshalb sind sie vorsichtig geworden und wollen nicht mehr mit ihren Klarnamen in der Zeitung stehen. Die Familie gehört der ethnischen Minderheit der Hazara an. Der Vater sei von den Taliban ermordet worden, als sie noch Kleinkinder waren, schildert Shabnam H. Die Mutter sei nach Pakistan geflohen und habe dort hart gearbeitet, um den Kindern - auch den Mädchen - eine gute Schulausbildung zu ermöglichen. Und sie hätten zu den besten gehört, sagt sie nicht ohne Stolz.
"Die aktuellen Unsicherheiten quälen die jungen Frauen, die bereits seit fast einem Jahr auf der Flucht sind", schreibt Julika Sandt an Joachim Herrmann. Sie bittet ihn, "den harten bayerischen Weg bei Ukraine-Geflüchteten aus Afghanistan zu überdenken". Wer im August 2021 aus Kabul geflohen sei, habe in der Regel seinen Schutzstatus in der Ukraine noch nicht erlangen können. Es gehe hier "um zwei Schwestern, die selbst größte Anstrengungen betreiben, sich zu integrieren. Sie standen mit beiden Beinen fest im Leben, haben so vieles überstanden, wollen so gerne Deutsch lernen, ihr Studium fortsetzen und arbeiten", so Sandt weiter.
"Es gibt hier Spielraum", glaubt Kreisrat Tobias Weiskopf
In anderen Bundesländern wird das laut Shabnam H. anders gehandhabt. Sie hätten Kontakt zu afghanischen Ukraine-Flüchtlingen, auf die Paragraf 24 angewandt worden sei. FDP-Kreisrat Tobias Weiskopf, den Sandt nach der Verlegung der Schwestern in den Landkreis Freising eingeschaltet hat, kritisiert, dass das Landratsamt seiner Meinung nach nicht alle Möglichkeiten ausschöpfe. "Es gibt hier Spielraum." Die Behörde sei zu restriktiv - ein Vorwurf im Übrigen, dem sich die Freisinger Behörde schon 2017 und 2018 ausgesetzt sah, als sie vor allem Geflüchteten aus Afghanistan, die Asylanträge gestellt hatten, Arbeits- und Ausbildungserlaubnisse verweigerte.
Die Konsequenzen der unterschiedlichen Behandlung werden im Fall der beiden Schwestern während des Gesprächs in einem Lokal, zu dem Julika Sandt die Frauen wegen der Enge in deren Quartier eingeladen hat, schnell offenbar: Bedient werden sie dort von einer geflüchteten jungen Ukrainerin, die arbeiten darf und gleich einen Job gefunden hat.