Freisinger Archivstück des Monats:Verplant

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Wie die Martinskapelle vom Kanzlerbogen her aussah, zeigt ein Foto des 2016 verstorbenen Freisingers Werner Sixt aus der Zeit um 1958/59. (Foto: Stadtrarchiv)

Im Herbst 1959 wurde die 800 Jahre alte Martinskapelle am Domberg abgerissen - für den Erweiterungsbau des Priesterseminars, das bald geschlossen wurde

Es muss ein freundlicher, überaus harmonischer Anblick gewesen sein: eine rötlich gefasste, erkennbar historische Kapelle mit schwerem Ziegeldach, Apsis und einem kleinen Dachreiter, gelegen auf einer grünen, mit Bäumen bestandenen Anhöhe. Bis 1959 war dies das Bild, das sich jedem darbot, der den Domberg über den Kanzlerbogen erreichte. Die Kapelle, die dem heiligen Martin geweiht war, hatte rund 800 Jahre lang einen festen Platz im gesellschaftlichen Gefüge der Stadt und war trotz ihrer geringen Größe und unauffälligen Gestaltung stets ein konstitutives Element im Freisinger Stadtbild. Vor 60 Jahren, im Herbst 1959, wurde sie abgebrochen. Wie die Martinskapelle vom Kanzlerbogen aus anzusehen war, zeigt eine frühe Farbfotografie, die der 2016 verstorbene Freisinger Werner Sixt in den Jahren um 1958/59 geschossen hat. Sie bildet das Archivstück des Monats Oktober.

Die Geschichte der Martinskapelle ist untrennbar mit der Geschichte des Kollegiatstifts St. Andreas verbunden. Das vom Freisinger Bischof Ellenhard um das Jahr 1060 gegründete Stift zählte Jahrhunderte hindurch zu den einflussreichsten geistlichen Institutionen der Stadt und der Region. Den Bau der Martinskapelle veranlassten die Kanoniker von St. Andreas wohl bald nach dem Domberg-Brand von 1159. Der Bauplatz lag einige Meter nördlich der Stiftskirche St. Andreas, dazwischen erstreckte sich das Areal des Andreas-Friedhofs. Motiv für den Kapellenbau dürfte gewesen sein, die pfarrlichen Funktionen aus der Stiftskirche auszulagern.

Im Zuge der Säkularisation des Andreas-Stifts wurde die Martinskapelle profaniert. Während man die beiden anderen Kirchen des Stifts - die westlich an St. Martin anschließende Allerheiligenkapelle sowie die Stiftskirche selbst - abgerissen hatte, blieb die Martinskapelle stehen. Die dem Gebäude zugedachte Funktion als Magazin für Feuerlöschgeräte verhinderte einen Abbruch. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der ehemaligen Kapelle eine würdigere Nutzung zuteil: Die Kunstsammlungen der Geistlichen Joachim Sighart und Heinrich Gotthard wurden in Teilen in der Martinskapelle ausgestellt. Diese Sammlungen bilden den Grundstock des heutigen Diözesanmuseums.

In den Jahren 1900 bis 1902 veränderte sich das städtebauliche Umfeld der Martinskapelle stark: Das Priesterseminar, das seit 1826 bestand und im Residenzgebäude untergebracht war, erhielt auf dem Areal der ehemaligen Stiftskirche St. Andreas einen monumentalen Erweiterungsbau. Zwar war das städtebauliche Gleichgewicht auf der Westseite des Dombergs damit aus den Fugen geraten, doch hatte Architekt Gabriel von Seidl zumindest versucht, St. Martin als historisches Relikt in die Neukonzeption zu integrieren.

Als Ende der 1950er-Jahre Seidls Erweiterungsbau wiederum durch einen Neubau ersetzt werden sollte, stand die 800 Jahre alte Martinskapelle von vorneherein zur Disposition. Auf vielerlei Ebenen wurde versucht, die Erzdiözese von einem Abriss der Kapelle abzubringen. Besonders exponiert war dabei das Engagement des Historischen Vereins Freising sowie des Bayerischen Landesamtes für Denkmalpflege. Doch alle Versuche, den romanischen Bau zu retten, scheiterten.

Der neue Erweiterungsbau, der die städtebauliche Struktur des Dombergs nachhaltig beschädigte, konnte 1962 bezogen werden. Sechs Jahre später wurde das Priesterseminar geschlossen - der mit großer Entschiedenheit propagierte Neubau hatte nach nicht einmal einem Jahrzehnt des Bestehens seine ursprüngliche Bestimmung verloren. Ungeachtet der zweifellos hohen finanziellen Investitionen und der jahrzehntelangen erfolgreichen Bemühungen der Erzdiözese München und Freising, das historische Erbe auf dem Domberg lebendig zu halten und zu öffnen: Der Abbruch von St. Martin im Jahr 1959 fußte auf Planungen, die jegliche Nachhaltigkeit vermissen ließen; er war unnötig.

Quellen: Stadtarchiv Freising, Nachlass Werner Sixt. Literatur: Lehrmann, Günther: Von den Baufachleuten als äußerst störend empfunden. Vor 50 Jahren: Der Abbruch der Martinskapelle auf dem Domberg, in: Stadtmagazin Fink, Ausgabe Oktober 2009, S. 12-13; Pfister, Peter: Freising-St. Andreas, in: Fahr, Friedrich et al. (Hg.): Freising. 1250 Jahre Geistliche Stadt (Kataloge und Schriften des Diözesanmuseums für christliche Kunst des Erzbistums München und Freising 9), München 1989, S. 135-139.

© SZ vom 27.09.2019 / sz - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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