Süddeutsche Zeitung

Ein etwas anderer Blick auf Freising:"Wie ein warmer Lieblings-Strickpullover"

Der im Rollstuhl sitzende ukrainische Fotokünstler Oleksander Stadnichenko lebt seit seiner Flucht aus dem Krieg in Freising und versucht von hier aus, anderen zu helfen. Mit einer geschenkten Kamera hält er seine Eindrücke fest. Die Unsicherheit ist ein täglicher Begleiter.

Von Lena Meyer, Freising

Der Fotokünstler Oleksander Stadnichenko sitzt im Rollstuhl. Wie so viele andere musste er seine Heimat aufgrund des brutalen Angriffskrieges Russlands auf die Ukraine verlassen. Im vergangenen Jahr zeigte er in einer ersten Ausstellung in Deutschland Fotografien von Kiew. Nun teilt er Freisings Gemütlichkeit im Internet und setzt sich in der Domstadt weiterhin für andere Menschen ein.

Wenn Oleksander Stadnichenko über seine Heimatstadt spricht, dann über Kiews Schönheit und Moderne. "Kiew ist eine sehr coole Stadt, in der Geschichte und moderne Welt zusammentreffen", erzählt der Künstler. Seine Worte klingen nostalgisch und erinnern an eine Heimat, die er aufgrund des Krieges verlassen musste. Seine Fotografien erinnern an ein Kiew, an eine Ukraine vor dem Krieg und der Zerstörung. Zu seiner Ausstellung in Freising bekam Stadnichenko von der Freisinger Kulturreferentin Susanne Günther eine neue Kamera - denn die eigene hatte er bei seiner Flucht zurücklassen müssen. Mit dem neuen, alten Freund erkundet er nun Freising und hält fest, was seiner "Seele und inneren Welt gut tut".

Seit einigen Monaten lebt der 40-jährige Stadnichenko nun schon in Freising und wird von der Lebenshilfe betreut - seine Familie und Freunde sind über den gesamten Kontinent verstreut. Dankbar ist er für die Hilfe, die er hier erfährt und nennt es ein Glück, an "einem so wunderbaren Ort zu sein". Die Umstellung sei jedoch nicht ganz einfach gewesen, so der Fotokünstler: "Stellen Sie sich vor, Sie befinden sich in einer völlig anderen Umgebung. Sie haben nichts bei sich, außer ein paar Koffern und einer sehr kleinen Summe an Geld." Neue Gesetze, ein neues System, ein neues Land - die Unsicherheit ist ein täglicher Begleiter für Stadnichenko.

Hinzu kommt die deutsche Bürokratie. "Es war unklar, wie es weiter gehen sollte", erinnert sich der Künstler. Wie er mit den Sorgen und Ängsten umgeht? Mit dem, was als reines Hobby angefangen hat: der Fotografie. "Fotografie hat mir immer geholfen, es ist wie eine Meditation. Ich gehe spazieren und halte den Moment und die Emotionen fest, die ich sehe."

So auch in der Domstadt, die der Künstler als klein und ruhig empfindet - ein gemütlicher Gegensatz zu der ehemaligen Millionenstadt Kiew. "Freising fühlt sich wie ein Lieblings-Strickpullover an. Dieses warme Gefühl will ich in meinen Fotografien festhalten."

Seine Bilder von Freising teilt der Künstler über das Internet

Gerade die grünen Alleen und den weiten Ausblick genieße er hier sehr. Im Winter sei ihm aufgefallen, wie wenig Fotos von Freising im Internet auf Google Maps zu finden seien. "Als ich nicht viel Zeit draußen verbringen konnte, schaute ich mir die Stadtkarte im Internet an und bemerkte, dass es sehr wenige Fotos von dieser schönen Stadt gab." Für Stadnichenko stand fest - das müsste sich ändern. Also entschloss er sich, nach und nach Fotos der digitalen Karte hinzu zu fügen: "Damit andere Menschen sehen können, wie schön diese Stadt ist."

In seinen Bildern fängt Stadnichenko die Gelassenheit von Freising ein, spielt mit dem Licht und zeigt die Ruhe und den Frieden der Domstadt. Obwohl die Motive durchaus bekannt sind, wirken sie auf den Bildern wie aus einer anderen Welt - gemütlich und friedlich. Wie eben ein Lieblings-Strickpullover. "Jede Stadt hat eine besondere Energie", sagt der Fotokünstler. Und diese transportiert Oleksander Stadnichenko durch seine Fotografien.

Als Fotokünstler möchte Stadnichenko weiterhin aktiv sein, mehr von der Region sehen und seinen Blick teilen. Vielleicht in weiteren Ausstellungen? Das sei schwierig zu beantworten. Denn dafür würde er - aufgrund seiner körperlichen Einschränkung - ein Auto benötigen, beispielsweise, um Bilder zu transportieren. "Wenn ich mobiler bin, werde ich mich mit Fragen zu einer Ausstellung beschäftigen können." Denn sein eigenes Auto, das Stadnichenko und andere Menschen mit einer körperlichen Einschränkung nach Deutschland gebracht hat, hat der Fotokünstler an freiwillige Helfer der Ukraine übergeben: Damit sie weiter Menschen aus dem Kriegsgebiet retten können. "Die freiwilligen Helfer in der Ukraine haben das Auto repariert", erklärt Stadnichenko. "Sie transportieren jetzt Menschen mit einer Behinderung aus den besetzten Gebieten, in denen jetzt aktiv Krieg herrscht."

Durch seine eigene Freiwilligenarbeit konnte Stadnichenko vielen Menschen das Leben retten - in der Ukraine organisierte er Fluchtmöglichkeiten für Menschen mit einer Behinderung, wie er erzählt. Sozial engagiert ist Oleksander Stadnichenko jedoch auch in Deutschland - trotz eigener Unsicherheiten. So organisiert er in Freising nun Freiwilligenlager, um Geflüchtete mit einer körperlichen Einschränkung zu unterstützen. "Wir organisieren unsere eigene Bewegung, um uns besser anzupassen und zu sozialisieren", erklärt der Fotokünstler. Jede Woche treffe er sich mit anderen Geflüchteten, die eine körperliche Einschränkung haben, auf der Online-Plattform Zoom. Diese digitalen Treffen nutze er "um zu diskutieren, wie man Behindertenpapiere korrekt ausfüllt und welche Rechte wir haben". Die Bürokratie sei ein Hindernis, doch er verstehe jeden Monat mehr, erklärt der 40-Jährige stolz.

"Es ist mein Land und ich kann nicht untätig zuschauen."

Damit aber nicht genug: Trotz der Distanz unterstützt Stadnichenko die Soldaten, die derzeit die Freiheit seines Landes verteidigen. "Ich habe auch Geld gesammelt, um damit Starlink zu kaufen und es unserer Armee zu spenden", sagt der Fotokünstler. Mit Starlink ist ein schnelles Breitband-Internet gemeint, das via Satellit gespeist wird. Die Kosten dafür fallen allerdings üppig aus - nicht selten bewegen sie sich um die hundert Euro pro Monat; gar nicht zu reden von den hohen Anschaffungskosten. Für den Fotokünstler spielt das keine Rolle. Er will helfen. "Es ist mein Land und ich kann nicht untätig zuschauen, wenn dort jeden Tag unschuldige Menschen getötet werden", sagt Oleksander Stadnichenko.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5770712
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ/vo
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.