Süddeutsche Zeitung

Freising:Sprachen als Tor zur Welt

Mehrsprachigkeit ist ein Geschenk für Kinder, Familien und die gesamte Gesellschaft, sagt Natalia Pérez Gonzalez. Die Chilenin will die Vielfalt der Sprachen und Kulturen in Freising mit Kursen am Zentrum der Familie stärken

Von Ronja Schamberger, Freising

Viele Menschen, die hören, dass die Kinder Melina und Adrian dreisprachig aufwachsen, sind zunächst irritiert. Ihre Mutter Natalia Pérez Gonzalez kommt aus Santiago, der Hauptstadt Chiles, und lebt mit ihrem Mann, der Tochter Melina und dem Sohn Adrian in Freising. Adrian ist vier Jahre alt und spricht drei Sprachen: Kroatisch, Spanisch und Deutsch.

Die Freisinger Erziehungs- und Sprachwissenschaftlerin Pérez Gonzalez sitzt an einem Mittwochmorgen im April auf der Bank eines Freisinger Spielplatzes und beobachtet ihre Tochter beim Spielen. Für sie als Mutter ist Mehrsprachigkeit der einzig natürliche Weg, den Sprachreichtum, der in ihrer Familie vorherrscht, gebührend zu würdigen. "Viele Menschen haben das Vorurteil, man verwirre die Kinder nur, wenn man sie mehrsprachig erziehe", sagt Pérez Gonzalez. Sie glaubt: Nehmen Eltern die mehrsprachige Erziehung ernst, ist sie ein großes Geschenk, nicht nur für das Kind, sondern für die ganze Familie, gar die gesamte Gesellschaft.

Pérez Gonzalez ist Referentin für Mehrsprachigkeit am Zentrum der Familie im katholischen Bildungswerk. Sie hat in Heidelberg studiert und leitet zur Zeit einmal in der Woche eine Gruppe, in der sie spanischsprachigen Eltern eine Anleitung für eine mehrsprachige Erziehung ihrer Kinder gibt. Ab September wird sie im Zentrum der Familie den Kurs "Mehrere Sprachen, mehrere Chancen" anbieten, in dem sie die Erziehungsprinzipien sowie verschiedene Aktivitäten für Eltern und Kinder vorstellt, die zu einer gelungenen Mehrsprachigkeit führen können. Diese hat nach Pérez Gonzalez Ansicht viele Vorteile: Menschen, die schon als Kinder mit mehreren Sprachen umgehen lernen, sind später offener in ihrem Denken und verfügen über eine höhere geistige Wahrnehmungskraft. Sie sind oftmals sensibler für interkulturelle Probleme und Missverständnisse. Sprechen sie mehrere Sprachen, eröffnen sich auch berufliche Chancen.

Bei der Erziehung der Kinder in mehreren Sprachen ist es, so Pérez Gonzalez, wichtig, feste Regeln aufzustellen. So darf eine Bezugsperson nur eine Sprache sprechen, Sprachmischungen sollten vermieden werden. "Die mehrsprachige Erziehung erfordert viel Disziplin. Viele Familien sind nicht konsequent genug und geben nach einer Weile auf", sagt die Sprachberaterin. Die Mehrsprachigkeit sei eine langfristige Aufgabe für die ganze Familie. Dafür stärke sie aber auch den Familienzusammenhalt, da sich Eltern und Kinder intensiv miteinander beschäftigten.

So sei es ihrer Schwiegermutter anfangs sehr schwer gefallen mit ihren Enkeln nur kroatisch zu sprechen, sagt Pérez Gonzalez. Doch langsam etablierte es sich, mit den Kindern kroatische Reime aufzusagen. Mittlerweile ist es für die Schwiegermutter ganz natürlich, mit den Enkeln Kroatisch zu sprechen.

Melina und Adrian profitieren davon. Sie lernen nicht nur die deutsche, sondern auch die chilenische und die kroatische Kultur kennen. Beide sind in Deutschland weniger präsent und drohen, leicht unter den Tisch zu fallen. "Die Mehrsprachigkeit hilft, die eigene Kultur in einem fremden Land nicht aufgeben zu müssen", so Pérez Gonzalez. Die Muttersprache der Bezugspersonen soll dem Kind Geborgenheit vermitteln. Sprache bedeute Identität und Kultur. Die Sprachberaterin hofft, dass Eltern und Kinder ihre Wurzeln wertschätzen.

Viele Zuwanderer hätten das Gefühl, sie müssten ihre eigene Sprache aufgeben, um sich zu integrieren. Das Paradigma laute, man müsse nur Deutsch lernen, dann klappe das schon mit der Integration. Das sei jedoch zu kurzfristig gedacht, sagt Pérez Gonzalez. Eigentlich sollten Zuwanderer Deutsch genauso pflegen wie ihre Muttersprache. "Mehrsprachigkeit ist ein Schlüssel zur Integration, wenn man sie richtig betreibt", sagt sie. Die Tür zur eigenen Kultur zu verschließen, öffne nicht gleichzeitig das Tor in eine andere.

Pérez Gonzalez will auf der Spielplatzbank nicht falsch verstanden werden: Natürlich müsse man zuerst die Sprache des Landes lernen, in dem man lebt, um sich zu Recht zu finden. Doch als zweiter Schritt müssten Zugewanderte lernen, positive Gefühle mit der neuen Heimat zu verbinden. Dies geschehe leichter, wenn die eigene Herkunft im fremden Land wertgeschätzt werde. "Menschen dürfen nicht das Gefühl haben, die eigene Muttersprache verstecken zu müssen", sagt die Sprachberaterin.

Deshalb will sie, dass die Teilnehmer ihres Kurses selbstbewusst sagen, aus welchem Land sie kommen und welche Sprachen sie sprechen können.

Dass das Thema Mehrsprachigkeit trotz einer beeindruckenden Sprachenvielfalt in der Stadt noch nicht wirklich in Freising angekommen ist, irritiert Pérez Gonzalez. Mehrsprachige Kindergärten gäbe es keine, dabei sei Mehrsprachigkeit aus einer globalisierten Welt kaum mehr wegzudenken. Sie ist momentan die Einzige, die Kurse zu diesem Thema plant. In Arbeit hat sie mehrere Projekte, unter anderem bilinguale Spielgruppen, Workshops zum Erlernen von interkulturellen Kompetenzen, ein Buch mit Tipps für Eltern, die ihre Kinder mehrsprachig aufwachsen sehen wollen, und Eltern-Kind-Gruppen in verschiedenen Sprachen.

Ihr Wunsch ist es, ein Gleichgewicht unter den Kulturen zu schaffen. Jede Sprache solle gleichwertig sein, egal ob Russisch, Spanisch oder Arabisch. Auch Dialekte würden zu dieser Sprachvielfalt gehören und Traditionen und Kultur transportieren, sagt Pérez Gonzalez. Und sie meint damit nicht nur das "Boarische".

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Quelle:
SZ vom 24.04.2015
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