Es gibt Menschen, die ihre großen Leidenschaften schon früh im Leben entdecken und sie nicht mehr loslassen, auch wenn der Krieg, die Not und das Erwachsenwerden mit all seinen Verpflichtungen dazwischenkommen. Kurt Sellier war so ein Mensch. Als er zum ersten Mal ein Marionettenspiel besaß, war er neun Jahre alt. Zu Hause begann er, eigene Figuren zu entwickeln, zu bauen und selber zu spielen. Man kann sich seine leuchtenden Augen und seine große Faszination gut vorstellen - schließlich sind Marionetten schon seit der Antike beliebt und haben Generationen von Menschen begeistert. Doch für Sellier war das Puppenspiel mehr als eine lustige Freizeitbeschäftigung: Es war eine lebenslange Berufung.
Kurt Sellier wurde 1919 geboren. Seine Familie betrieb die gleichnamige Druckerei und den Verlag an der Freisinger Bahnhofstraße, die 1702 von Johann Sonntag, einem Buchdruckergesellen aus Nürnberg, gegründet und 1909 von Arthur Sellier gekauft und ausgebaut worden war. 1934 gehörte Kurt Sellier, damals fünfzehn Jahre alt, zu einer Gruppe von engagierten Bürgerinnen und Bürgern (mit dabei waren die Familien Schmähling, Bäumel, Löcherer und Miller), die die „Marionettenbühne Freising“ ins Leben rief.


Das Ensemble organisierte Puppenspiel-Aufführungen im Stieglbräu oder im nicht mehr existierenden Leo-Saal an der Brunnhausgasse, inszeniert wurden etwa Kasperltheaterstücke, die Faust-Erzählung aus dem 16. Jahrhundert und Werke von Friedrich Hebbel. Sellier selbst, der gleichzeitig in der Münchner Marionettenbühne tätig war, war für die Mechanik der Marionetten zuständig. Die Resonanz in Freising war positiv, das Publikum begeistert, die Presse berichtete wohlwollend - bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges im Jahr 1939. Auf der Marionettenbühne Freising, die zuerst ehrenamtlich war und später städtisch wurde (was allerdings zu einer größeren Einflussnahme des NS-Staates führte, der versuchte, die Inszenierungen für sich auszunutzen) gingen die Lichter für immer aus.
Und Sellier? Nach dem Krieg arbeitete er an den Münchner Kammerspielen, zunächst als technischer Assistent, danach als technischer Leiter. Die Arbeit habe ihn jedoch nicht erfüllt, da er sich künstlerisch nicht ausdrücken konnte, erklärt Eva Willberg vom Freisinger Stadtmuseum. Also gründete er ein Atelier und wurde zum Exporteur von Marionetten. 1949, im Alter von 30 Jahren, übernahm er die Leitung des Familienverlages, der sich mit Schul- und Kinderbüchern einen Namen machte. Doch die Marionetten vergaß er nicht: Er baute sie weiter und trat immer wieder als Marionettenspieler auf. „Die Marionetten sind eigenhändig gestaltet und mit viel Originalität, Fantasie und bezaubernden Einfällen zum Leben erweckt“, schrieb etwa die SZ Freising am 13. Oktober 1990.
25 Figuren aus dem Nachlass Selliers werden heute im Depot des Stadtmuseums Freising aufbewahrt, die Willberg am Dienstagabend während einer Themenführung präsentierte. Unter ihnen der Famulus Wagner aus dem Faustspiel, die raffinierte Kupplerin oder die Gespenster, die Sellier für die ARD-Serie „Die seltsamen Abenteuer des Herman van Veen“ kreierte.


„Es ist ein wahrer Schatz“, sagt Eva Willberg. Einige Marionetten sind restaurierungsbedürftig, die meisten sind aber sehr gut erhalten und durch Selliers handwerkliches Geschick noch in der Lage, eine fesselnde Illusion zu schaffen. Das Publikum am Dienstagabend schien jedenfalls beeindruckt zu sein - vom kreativen Leben des Kurt Selliers und von den geschnitzten Figuren, die durch ihre Details und vor allem durch ihre Bewegungen auffallen. „Es ist faszinierend, wie man mit einer Puppe Menschen erreichen kann“, kommentiert Willberg.
Roman Sellier, Sohn von Kurt Sellier, der am Dienstag im Publikum saß, erzählte, dass er zwischen den Puppenfiguren, die bei ihnen im Wohnzimmer hingen, aufgewachsen sei. Bei seiner Hochzeit habe Kurt Sellier seine letzte Aufführung gegeben: Damals sei er bereits 84 Jahre alt gewesen, aber sobald er die Fäden in die Hand genommen habe, sei „die ganze Kraft noch einmal mobilisiert“ worden. Nach einem ausgefüllten Leben ist Kurt Sellier 2009 in Eching gestorben. Er wurde 90 Jahre alt.