Medmobil im Landkreis Freising:Denen helfen, die man nicht sieht

Medmobil im Landkreis Freising: In seiner mobilen Praxis versorgt der Freisinger Hausarzt Odo Weyerer jeden Mittwoch Bedürftige. Im vergangenen Jahr hat er sein Medmobil-Konzept noch weiter optimiert.

In seiner mobilen Praxis versorgt der Freisinger Hausarzt Odo Weyerer jeden Mittwoch Bedürftige. Im vergangenen Jahr hat er sein Medmobil-Konzept noch weiter optimiert.

(Foto: Johannes Simon)

Der Freisinger Hausarzt Odo Weyerer ist mit dem Medmobil unterwegs. Er versorgt Menschen ohne Krankenversicherung, die ihre Wohnung verloren haben und auf der Straße leben.

Von Charline Schreiber

"Ein und wieder ausatmen." Odo Weyerer legt die Membran seines Stethoskops auf die Brust seines Patienten Sepp. Er hat nach einem Fahrradsturz Schmerzen im Bereich seiner Rippen. "Deine Lunge ist frei, kein Erguss, kein Rascheln." Sepp ist wohnungslos. Beinahe jeden Tag kommt er in die Freisinger Wärmestube, ein Ort für Einsame und Wohnungslose, holt sich bei der Vorstandsvorsitzenden Irmgard Schiffer einen Kaffee ab und blättert durch die Seiten der aktuellen Tageszeitung. Mittwochmittags kommt auch Hausarzt Weyerer in die Stube. Seit vergangenem Jahr regelmäßig in seinem Medmobil.

Seit 2016 betreut der 64-Jährige Obdachlose in der Wärmestube. In den vergangenen Jahren stellt er immer öfter fest, dass es viele Bedürftige gibt, die die Wärmestube nicht aufsuchen, obwohl sie krank oder auf Hilfe angewiesen sind. Mit dem Medmobil möchte er die erreichen, die nicht krankenversichert sind, vom System verschluckt werden oder ganz vom Radar verschwinden. Peter Aicher von der Aicher Ambulanz Union und Thomas Bihler vom Flughafenverein München finanzierten dafür einen gebrauchten Krankentransportwagen im Wert von 40 000 Euro. Für die Innenausstattung, Defibrillator, Labor und Medikamente, hat die Wärmestube aus Spenden nochmal die gleiche Summe aufgebracht. Seit etwa einem Jahr ist er nun mit seinem Medmobil im Landkreis unterwegs, seine Tour startet er immer an der Wärmestube an der Vimystraße.

Weyerer findet einen Ton, der ihm viel Akzeptanz entgegenbringt

Der genaue Aufenthaltsort der zweiten Patientin an diesem Tag bleibt zu ihrem Schutz anonym. Über eine Sozialarbeiterin erfuhr Weyerer von einer älteren Dame, die seit Monaten bettlägerig ist. An einem Schotterweg wohnt sie in einer Holzhütte, die von weitem nur schwer als eine solche zu erkennen ist. Der Weg zu Weyerers Patientin führt durch bergeweise Müll, Plastikwannen und verrostetes Blech. Dinge, für den der Durchschnittsbürger keinen Gebrauch mehr hat. In der Hütte ist der Fußboden uneben, die Türen sind verzogen und Schimmelgeruch reizt die Schleimhäute. Durch eine offene Tür geht Odo Weyerer in einen Raum, der ein Schlafzimmer sein könnte. Darin steht ein Bett, in dem eine zierliche alte Dame unter einer Decke fast ganz verschwindet.

Als Weyerer das erste Mal hier war, hatte die Frau drei Monate am Stück in diesem Bett gelegen. Heute schaut er sich ihre Gelenke an und kontrolliert, ob die verschriebenen Medikamente richtig eingenommen werden. Opiate gegen die Schmerzen, die ihr ein Tumor macht, Blutverdünner, den sie, ganz wichtig, zwei Mal täglich einnehmen soll. Die Arztdokumente steckt Weyerer ein und kopiert sie sich, damit seine Unterlagen zu dem Fall vollständig sind. Jede Behandlung dokumentiert er genau. Er findet einen Ton, der ihm viel Akzeptanz entgegenbringt und ihm seine Arbeit erleichtert. Niemand sonst darf dieses, eigentlich menschenunwürdige, Zuhause betreten. Weyerer schon.

Medmobil im Landkreis Freising: Der 64-Jährige stammt aus einfachen Verhältnissen. Nach seinem Medizinstudium hat es ihn wieder zurück in seine Heimat Freising verschlagen.

Der 64-Jährige stammt aus einfachen Verhältnissen. Nach seinem Medizinstudium hat es ihn wieder zurück in seine Heimat Freising verschlagen.

(Foto: Johannes Simon)

Odo Weyerer ist in Freising geboren und in einfachen Verhältnissen aufgewachsen, sein Abitur hat er am Josef-Hofmiller-Gymnasium gemacht. Für sein Medizinstudium ging er erst zwei Jahre nach Regensburg, absolvierte daraufhin vier Jahre die Klinik in Würzburg und promovierte anschließend in Marburg. Er hätte Karriere machen können, sagt er, in Amerika zum Beispiel. Aber das Echo Freisings hallte nach in ihm, also entschloss er sich zurückzukommen. Vor 32 Jahren gründete er seine Praxis, war zeitweise für die German Rotary Volunteer Doctors in Nepal unterwegs und möchte auch in den kommenden Jahren noch weiter praktizieren.

"Der will dir nur Gutes, nichts Böses im Blut hat der."

Nachdem er seine erste Patientin versorgt weiß, setzt Weyerer seine Tour fort und fährt weiter zum Bahnhof. Er hat hier einen festen Stellplatz, der für die Privatsphäre der Obdachlosen etwas sichtgeschützt ist. Er darf das Medmobil überall in Freising abstellen. Oberbürgermeister Tobias Eschenbacher hat ihm dafür extra eine Erlaubnis ausgestellt. Am Bahnhof verteilt er zuerst warme Leberkässemmeln und gekühltes Wasser und kontrolliert anschließend einen drei Wochen alten Zeckenbiss. "Wenn der rote Kreis an der betroffenen Stelle nicht zurückgegangen ist, braucht er ein Antibiotikum." Der rote Kreis hat die Größe einer ein Cent Münze, Weyerer hat auf bessere Neuigkeiten gehofft. Dann also ein Antibiotikum. Seine zweite Patientin klagt über Schmerzen am Fuß, währenddessen wartet schon der dritte Patient draußen. Er heißt Muck, sagt er, und benötigt für seine Wunde am Bein Ibuprofen. "Den Doktor" mag er, sagt Muck. "Der will dir nur Gutes, nichts Böses im Blut hat der."

Medmobil im Landkreis Freising: Die Ausstattung des Medmobils wird vollends aus Spenden finanziert. Mittlerweile ist Odo Weyerer für jeden Krankheitsfall gerüstet.

Die Ausstattung des Medmobils wird vollends aus Spenden finanziert. Mittlerweile ist Odo Weyerer für jeden Krankheitsfall gerüstet.

(Foto: Johannes Simon)

Und tatsächlich umgibt Weyerer eine unausgesprochene Leichtigkeit. Er lacht viel und oft, manchmal pfeift er beiläufig eine Melodie vor sich hin. Seine Patienten behandelt er wie alte Bekannte, weil sie es eben auch sind. Er sieht sie wöchentlich, an der Wärmestube, am Bahnhof oder der Unteren Isarstraße. "Armut und Obdachlosigkeit kann jeden treffen, gerade deswegen sollten wir einander helfen." Manchmal habe die Rente nicht ausgereicht, oder die Kosten für die Krankenversicherung ist im Alter so sehr angestiegen, dass sie jemand nicht mehr zahlen konnte. Dann war die Miete fällig und das Konto leer, also ging es auf die Straße. Im Laufe des Jahres 2020 lebten laut der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) rund 45 000 Menschen ohne jede Unterkunft auf der Straße. Ein Anstieg von rund acht Prozent innerhalb von drei Jahren.

Mittlerweile ist ein Netzwerk aus Helfenden und Sozialarbeitern im gesamten Landkreis entstanden

Mittlerweile ist ein gewaltiges Netzwerk aus Helfenden und Sozialarbeitern entstanden, die sich um die Bedürftigen im Landkreis kümmern. Auch das Medmobil wird bisweilen von vier Ärzten und einer Krankenschwester im Ruhestand fortgeführt. Mit der Agenda Gruppe "Tisch füreinander" werde bald ein Register für Wohnungs- und Obdachlose zusammengestellt, das Ansprechpartner für die Probleme listet, die Weyerer in seiner mobilen Praxis nicht behandeln kann. Und kommende Woche, dafür hat Weyerer an diesem Tag immer wieder Werbung bei seinen Klienten gemacht, dürfen die Bedürftigen im Hofbrauhauskeller Essen und Trinken à la carte bestellen. Die Dankbarkeit, die er an diesem einen Tag jede Woche erfährt, gebe ihm viel zurück. "So macht es mir einfach Spaß." Erst am Sonntag wurde der Allgemeinmediziner vom bayerischen Staatsministerium und bayerischen Landtag für sein ehrenamtliches Engagement in der Coronazeit zum Corona-Helferfest eingeladen.

An diesem Mittwoch, sagt Weyerer, sei nicht viel los gewesen. Erst wenn die Tage wieder kälter werden, werden es wieder mehr Patienten. Im vergangenen Winter waren es einmal knapp 50 am Tag, erinnert er sich. Bis zur nächsten Woche stellt er sein Medmobil in einer Bauhofhalle in Weihenstephan ab. Auch da hat ihm Josef Schrädler, Direktor der Bayerischen Staats­brauerei, einen Platz kostenlos freigemacht. Er räumt den Wagen noch auf, gleich ist es 16 Uhr. Der frühe Feierabend ruft.

Nähere Informationen zu Spendenmöglichkeiten gibt es unter www.das-medmobil.de/spenden.

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