Manchmal ist das Leben eines verehrten Menschen nicht so tadellos, wie man es gerne hätte. Das passiert unter anderem, wenn man die Geschichte aus der heutigen Sicht interpretiert. Wann darf man jemanden entschuldigen, weil damals einfach "andere Zeiten" waren? Und wann ist Distanzierung angebracht?
Zum Beispiel Korbinian. Der ursprünglich aus Frankreich stammende Missionar war, das weiß in Freising inzwischen jede und jeder, vor genau 1300 hierher gereist, um das neue Bistum zu gründen. Auf dem Weg nach Rom, auch das weiß inzwischen jeder, begegnete er einem angriffslustigen Bären, den er aber nicht tötete, sondern zähmte. Seitdem ist der Bär das ikonografische Attribut des Korbinians: Das Tier wird stets zu Füßen seines Herren dargestellt, brav, gehorsam und harmlos wie der treueste aller Hunde.
Nun, an der Geschichte darf man natürlich zweifeln, und nicht nur, weil sie erst zwei Jahrzehnte nach Korbinians Tod in seine hagiografische Biografie hinzugefügt wurde. Dennoch gilt das Bärenwunder bis heute als die bekannteste Episode aus Korbinians Leben, weil sie so beispielhaft, einzigartig und natürlich unterhaltsam klingt wie kaum eine andere. Weniger beispielhaft ist eine andere Episode, die heute unter die Kategorie "frauenfeindlich" fallen würde: die Begegnung mit einer Zauberin.
Die Geschichte geht so: Als Korbinian einmal in die Stadt gehen wollte, um in der Kirche der heiligen Maria die Vesper zu feiern, kam ihm eine Bäuerin entgegen, das im Verruf stand, eine Zauberin zu sein. In der Vita Corbiniani, die vom Freisinger Bischof Arbeo verfasst wurde, ist in der Übersetzung von Franz Brunhölzl zu lesen: "Als der Gottesmann die Hexe sah, wollte er genau von ihr wissen, woher sie komme. Da behauptete das boshafte Weib, ein Sohn des Herzogs, in der Blüte der Jugend stehend, sei durch geheimnisvolle Erscheinungen böser Geister heimgesucht worden, und sie habe ihm durch ihre verdammenswerten Zaubersprüche und betrügerischen Künste die Gesundheit wieder verschafft."
Als Korbinian das hörte, wurde er sofort wütend: Wie konnte es eine Hexe nur wagen, sich gegen die katholische Lehre zu stellen und einen solchen Unsinn zu verbreiten? Seine Reaktion ließ nicht lange auf sich warten: Korbinian, so erzählt die Legende, sprang vom Pferd und verprügelte die alte Frau, und weil er ein großes Herz hatte - so zumindest will der Autor der Hagiografie suggerieren - ließ er alle Geschenke, die der heilkundigen Frau gemacht worden waren, an die Armen verteilen. Immerhin.
Im Freisinger Mariendom, der vor 300 Jahren aus Anlass des Korbiniansjubiläums umfassend renoviert wurde, ist die Episode sogar abgebildet - schließlich war man damals noch der Auffassung, dass die Verfolgung von sogenannten Hexen und Zauberinnen legitim war ( die letzten "Freisinger Hexenbubenprozesse" fanden 1723 statt, ein Jahr vor dem Jubiläum).
Auf einem Fresko von Cosmas Damian Asam im Dom ist also zu sehen, wie der in Weiß und Purpur gekleidete Gottesmann eine alte, am Boden liegende Frau mit der Peitsche schlägt. Dass sie als dämonisches Wesen gilt, erkennt man nicht nur an den verzerrten Gesichtszügen und an der wilden Frisur, sondern auch an dem Buch mit germanischen Runeninschriften, die mit magischen Praktiken assoziiert wurden. Darunter steht der Spruch: "Veneficam depalmat", Latein für: "er schlägt die Zauberin".
Missionierungen waren oft mit Druck und Gewalt verbunden
In der Landesausstellung "Tassilo, Korbinian und der Bär", die bis November im Diözesanmuseum zu sehen ist, wird dieses oft vergessene Kapitel der Vita Corbiniani immerhin thematisiert und kontextualisiert. Im Mittelpunkt steht jedoch nicht die Episode an sich, sondern eine breitere historische Analyse. Denn: ob der Vorfall sich wirklich so zugetragen hat, das ist angesichts der fantasievollen mittelalterlichen Quellen fraglich. Aber, so liest man im Katalog zur Ausstellung: "Ziemlich sicher haben im frühen Bayern eine Zeit lang verschiedene religiöse Vorstellungen nebeneinander existiert". Neben dem Christentum, das sich bereits unter römischer Herrschaft ausgebreitet hatte, waren germanische Glaubensvorstellungen präsent.
Seit dem 7. Jahrhundert waren im Bayern Missionare wie Korbinian unterwegs, die vom Herzogsgeschlecht der Agilolfinger, die sich bereits zu Christus bekannt hatte, unterstützt wurden. Aus anderen Regionen ist bekannt, dass diese Missionierungen oft mit Druck und Gewalt verbunden waren: Dafür gibt es im Freistaat keine Belege, aber auch in Bayern könnte es so gewesen sein, wird in der Landesausstellung erklärt. Und auch nachdem sich das Christentum durchgesetzt hatte, hielten viele Menschen weiterhin an alternativen Praktiken fest und nutzten Amulette und Talismane. Manchmal, so heißt es in der Ausstellung, sogar mit Billigung der Kirche. Andere Male kam es hingegen zu Konflikten und Gewalt.
In der Episode mit der Zauberin prallen also zwei Welten aufeinander: das Christentum einerseits und der heidnische Glaube andererseits. Dass der Heilige Korbinian die alte Frau tatsächlich verprügelt hat, weil er ihre unchristlichen Praktiken nicht tolerieren konnte, ist zwar quellenmäßig nicht gesichert. Gelobt wurde er dafür trotzdem.