Freising:Englisch macht Angst

Eine Freisingerin in Dunkerque (2): Kathi Horban beschreibt die seltsame Methodik an französischen Schulen, Jugendlichen eine Sprache beizubringen

Von Katharina Horban

"Guten Tag", sagt ein Junge. "Zwanzig, dreißig, vierzig . . .", antwortet das Mädchen. Es ist 7:30 Uhr. Der Bus ist voll, die Leute drängen sich dicht aneinander. Diese zwei Kinder, vielleicht zehn Jahre alt, fragen sich für den Deutschunterricht die Vokabeln ab. Noch ist es dunkel, nur die Boulangeries, die Bäckereien, sind hell erleuchtet. Jetzt fährt der Bus über einen Kanal: In Dunkerque sind sie fast wie zweite Straßen, man sieht immer Schiffe auf den Kanälen.

Etwas später an meinem Lycée angekommen, strömen die vielen Schüler zum Eingang. Vor dem Schultor stehen zwei Surveillants. Das sind meist Studenten, die an den Schulen für die Disziplin und die vielen organisatorischen Dinge zuständig sind. Man kann sagen, sie sind die Assistenten der Lehrer. Wenn Schüler zum Beispiel zu spät kommen, dürfen sie erst in die Klasse, wenn sie eine Bescheinigung von einem Surveillant haben. Meine Freundinnen stehen schon vor dem Klassenzimmer, alle begrüßen sich mit "Faire la bise". Es fällt auf, dass das "Ça va?" bei den Franzosen meist nur eine rhetorische Frage ist, es wird anders als in Deutschland keine wirkliche Antwort erwartet.

Um acht Uhr fängt der Unterricht an, die erste Stunde ist Mathe. Thema der Stunde: Quadratische Gleichungen und Anwendungsaufgaben dazu. Fast allen macht Mathe Spaß, das liegt wohl daran, dass ich im Naturwissenschaftszweig der Première bin. In Frankreich gehen die Kinder nach der Grundschule auf das Collège, danach gehen sie auf das Lycée. Am Lycée gibt es drei Klassenstufen, die Seconde, die Première und die Terminale. Mit 18 oder 19 Jahren machen die Schüler dann ihr BAC, ihr Abitur. Mittelschule, Realschule, Gymnasium - verschiedene Schultypen mit einem unterschiedlichen Niveau gibt es nicht.

Bücher

So sehen französische Schulbücher aus, die Austauschschülerin Katharina Horban derzeit beim Unterricht in Dunkerque benutzt.

(Foto: Katharina Horban)

"Vite, vite!", ruft die Mathelehrerin und klopft energisch an die Tafel. Die Klasse soll sich mit der letzten Aufgabe beeilen, die Stunde ist gleich zu Ende. Jetzt steht Französisch auf dem Stundenplan - die Lehrerin betritt den Raum und sofort sind alle still. Erst nachdem sie es gesagt hat, darf die Klasse sich setzen. Texte von Moliere, Pascal und anderen Autoren, die vor Jahrhunderten gelebt haben, nimmt die Lehrerin mit der Klasse gerade durch. Heute werden die Stilmittel, "les figures de style", in einem Textauszug aus Don Juan analysiert.

Für einen Austauschschüler ist das natürlich unmöglich zu verstehen. Trotzdem ist es wichtig, dass man Interesse zeigt, und aufrecht sitzen bleibt. Die Lehrer reagieren höchst allergisch darauf, wenn Schüler ihren Kopf in die Hände stützen oder die Beine ausstrecken. Die Lehrerin redet über den Text und die Schüler schreiben mit. Hefteinträge, von den Lehrern passend für die Schüler formuliert, gibt es fast überhaupt nicht. So ist jeder gezwungen mitzudenken.

Nach einer Doppelstunde "Physique-Chimie" ist dann schließlich Mittagspause. Die Mensa wird von wirklich allen Schülern genutzt und das ist auch notwendig, denn es ist normal in Frankreich, dass die Schultage bis 17 oder 18 Uhr dauern. Ohne ein warmes Essen hält man das nicht durch. Und so gibt es auch keine Diskussionen mit den Lehrern: "Aber heute haben wir Nachmittagsunterricht, Sie dürfen uns keine Hausaufgaben aufgeben!" Nach der Schule wartet auf die Jugendlichen ein Berg von Hausaufgaben, sie sitzen oft bis spätabends am Schreibtisch.

Kathi Horban

Katharina Horban ist Schülerin des Freisinger Camerloher-Gymnasiums und für ein Jahr mit Rotary International als Austauschschülerin in Frankreich.

(Foto: oh)

Aber zurück zu den französischen Gerichten in der Mensa: Es gibt immer eine Vorspeise, ein Hauptgericht und zwei Nachspeisen. Käse ist in Frankreich ein fester Bestandteil der Desserts, in der Mensa ist es normal, dass der Käseteller im Kühlregal neben den Kuchen und Puddings steht. "T´aimes bien la cuisine française?", fragt mich ein Mädchen aus meiner Klasse während des Essens. Sie will also wissen, ob ich die französische Küche mag. Sie erkundigt sich, was es in Deutschland in der Schule zum Essen gibt. Als ich sage, dass es bis vor einem Jahr wegen einer Baustelle überhaupt kein warmes Essen gab, kann sie das nicht glauben.

Nach der Mittagspause habe ich Englisch in der Terminale, das ist die Abschlussklasse. Englischunterricht in Frankreich, das ist ein Kapitel für sich: Die Franzosen haben generell nicht wirklich Lust, Fremdsprachen zu lernen. Weil England von Dunkerque nur etwa 30 Kilometer entfernt ist, ist das besonders absurd. Viele Schüler wollen sich nicht anstrengen, diese Sprache zu lernen oder haben schlichtweg Angst, Englisch zu sprechen.

Doch es sind nicht nur die Schüler, das französische Schulsystem trägt auch einige Schuld: Es fängt damit an, dass es zumindest an meiner Schule keine Englischbücher gibt. Vokabelabfragen am Anfang gibt es also auch nicht, genauso wenig wie Vokabelhefte für die Schüler. Die Lehrer schreiben im Laufe der Stunde stets viele Wörter an die Tafel, welche die Klasse dann in ihr Heft übernehmen soll. Wie gründlich das geschieht, wird zu wenig von den Lehrern überprüft. So kommt es, dass oft die grundlegendsten Wörter fehlen, um sich auf Englisch zu unterhalten.

Wie also sieht jetzt eine Englischstunde in Frankreich aus? Ich habe für dieses Fach in die Abschlussklasse gewechselt, heute beschäftigen wir uns in der Terminale mit dem Wahlrecht für Frauen im frühen 20. Jahrhundert. Die Lehrerin arbeitet viel mit Videos und zeigt uns den Trailer des Films "Suffragette", der nächsten Monat in die Kinos kommt. Dieser Film porträtiert verschiedene Frauen und zeigt, wie sie für ihr Wahlrecht kämpfen müssen. Die Klasse soll die Rolle von Frauen und Männern in dem Trailer herausarbeiten. Anschließend lesen wir einen Text zum Thema mit allen wichtigen Informationen. Nach einer Stunde "Sciences de Vie et de Terre", das entspricht Biologie und Geologie, und einer Stunde Deutsch ist der Schultag dann zu Ende.

Nach der Schule fahre ich mit dem Bus zum Bahnhof, um Zugtickets nach Arras zu kaufen. Denn am Wochenende findet in dieser Stadt ein Event von Rotary statt und alle Austauschschüler sind dazu eingeladen. Nachdem die Dame am Schalter verstanden hat, wohin es geht und ich die Tickets dann schließlich habe, kaufe ich mir am Bahnhofskiosk ein Croissant. Gerade steht ein Mann mit einem kleinen Kind an der Kasse. Der Junge, vielleicht sechs Jahre alt, hält eine Packung Schokokekse in den Händen. Sein Vater sagt der Kassiererin: "I would like to have a black tea." Sie schaut ihn verständnislos an, er wiederholt den Satz. Sie kann kein Englisch, er kein Französisch. Ich dolmetsche zwischen den beiden. Dankbar schaut mich der Mann an. Dann frage ich ihn: "Where are you from?" Er antwortet: "We´re from Aleppo." Im Hintergrund wartet die Mutter mit den Koffern, sie sieht müde und abgekämpft aus. Diese Familie will noch weiter: auf der Suche nach einem neuen sicheren Zuhause.

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