Psychologie:Furcht ist ein schlechter Lehrmeister

Psychologie: "Timor Domini Principium Sapientiae" - die Furcht vor dem Herrn ist der Anfang der Weisheit. Über diesen Bibelspruch lässt sich aus neuropsychologischer Sicht trefflich streiten.

"Timor Domini Principium Sapientiae" - die Furcht vor dem Herrn ist der Anfang der Weisheit. Über diesen Bibelspruch lässt sich aus neuropsychologischer Sicht trefflich streiten.

(Foto: Marco Einfeldt)

Der Bibelspruch "Timor Domini Principium Sapientiae", ziert den Wandsims des Freisinger Diözesanmuseums. Übersetzt heißt dies, dass die Furcht vor dem Herrn der Anfang der Weisheit ist. Aus neuropsychologischer Sicht ist Lernen unter Angst problematisch. Warum es dennoch gut ist, dass der Spruch bleibt, erklären zwei Experten.

Von Lena Meyer, Freising

Das neu eröffnete Diözesanmuseum erfreut mit viel Prunk und Pracht, mit spektakulären Lichtinstallationen und nackten Tatsachen. Wer hier den Blick schweifen lässt, findet unzählige Kunstwerke und Kulturschätze. Und wird vielleicht auch an dem Vers "Timor Domini Principium Sapientiae" verweilen; einem Bibelspruch aus dem Alten Testament, der in großen Lettern in das Gesims des Atriums eingemeißelt ist. Übersetzt heißt dies: "Die Furcht vor dem Herrn ist der Anfang der Weisheit." Es ist ein Spruch, der für das ein oder andere Stirnrunzeln und für das ein oder andere Gespräch sorgen kann. So auch zwischen Philologieprofessor Marc-Aeilko Aris und William Mayrthaler, die im Büro der Domkirchenstiftung Freising zusammenkommen - in entspannter Atmosphäre und inmitten hoher Bücherregale. Der eine ist Literaturwissenschaftler und seit Oktober 2016 Domrektor des Freisinger Doms, der andere Psychotherapeut mit einer klaren Botschaft: Dort wo gelehrt und gelernt wird, sollte Furcht weit weg sein.

Obwohl der Spruch eigentlich einen frommen Ursprung hat und somit kirchlich konnotiert ist, wird er immer wieder in einem weltlichen Kontext "missverständlich verwendet", sagt Mayrthaler. So nämlich im erzieherischen Alltag, wie etwa an Schulen oder Universitäten - gerade an diesen Institutionen wird er des Öfteren eingraviert vorgefunden, manchmal auch von den Lehrenden übernommen. Für den Psychotherapeuten ein problematischer Aspekt. Immerhin sei die Vorstellung, durch Furcht Wissen vermitteln zu wollen, aus neuropsychologischer Sicht kritisch zu sehen. Denn wer fürchtet, schüttet das Stresshormon Cortisol aus und handelt sofort, um sich vor möglichen Gefahren in Sicherheit zu bringen, ohne lange darüber nachzudenken. Evolutionsbiologisch gesehen ist Furcht sehr sinnvoll. Didaktisch gesehen eher fraglich. "Im Gehirn wird ein anderes Areal provoziert, als das, was ich brauche, um Klugheit oder Weisheit zu erlangen", weiß Mayrthaler. Ein Nachdenken sei überhaupt nicht möglich, wenn sich der Lernende fürchte - man sei schlicht und einfach nicht aufnahmefähig, sondern dekodiere die eventuelle Bedrohung.

Und das Gefühl von Furcht kann bereits entstehen, wenn der Lehrende mit dem Buch auf den Tisch schlägt, aber auch, wenn er die Schüler ausgrenzt. Denn immerhin hat Exklusion für unsere Vorfahren einmal den sicheren Tod bedeutet und ist daher mit Angst verbunden. Mehr noch: Der Psychotherapeut verweist darauf, dass bei einer Ausgrenzung oder Beleidigung genau an derselben Stelle eine Reaktion im Schmerzzentrum des Gehirns eintrete, wie nach einem Schlag oder Tritt. Der Satz "Du hast mir mit Deinen Worten weh getan", sei daher wörtlich zu nehmen, so William Mayrthaler.

Er selbst wolle die Kirche nicht anprangern. Im Gegenteil: "Ich sehe in der Kirche wunderbare Zugänge, die hilfreich sind", sagt der Freisinger Psychotherapeut. So etwa in den Botschaften, die durch Jesus im Neuen Testament verbreitet wurden. Stichwort: Liebe deinen Nächsten. "Jeder Hirnforscher würde da Bingo rufen." Immerhin enthalten diese Botschaft Empathie und die Idee des Perspektivwechsels: wichtige Aspekte, die das Lernen erleichtern und auf neuronaler Ebene eine Bedeutung haben. "Liebe auf Hirnebene ist der Gegenstoff zu Furcht", erklärt Mayrthaler. Denn das ausgeschüttete Glückshormon Oxytocin - auch Kuschelhormon genannt - reduziere wiederum das Stresshormon Cortisol, sorge für Ruhe, was das Lernen erleichtere.

Dass so mancher Spruch auf einer hirnphysiologischen Ebene Auswirkungen hat, fasziniert Marc-Aeilko Aris. Dabei sei besagter Bibelvers überhaupt nicht für Erziehungsanstalten gedacht und auch nicht im Sinne von Einschüchterung oder Schrecken zu verstehen. Stattdessen werde dadurch Wissen transportiert, das die Kenntnisse des Einzelnen übersteige, zudem eine wechselseitige Dankbarkeit und Erstaunen vor der Schöpfung begünstige. "Der Lateiner hätte das wahrscheinlich pietas genannt", sagt Aris. Nun steht allerdings nicht pietas - die Ehrfurcht - sondern timor am Sims des Diözesanmuseums und an den Wänden so mancher Schule oder Universität.

Die Zeit, in der die Bibel ins Lateinische übersetzt wurde, war von Gewalt geprägt

Warum, das kann der Philologieprofessor beantworten. "Man hält sich an die klassische Bibelübersetzung ins Lateinische", so Aris. Und diese wurde wiederum im vierten Jahrhundert getätigt, "in einer Welt, die durch Gewalt und Gegengewalt geprägt war", erklärt der Domrektor. Zudem gebe es für den Spruch unterschiedliche Übersetzungsansätze aus dem hebräischen Originaltext. Man müsse also den gesamten Horizont begreifen und sich einen Überblick über den Text und seine Geschichte verschaffen, so Aris. Dabei reiche es oftmals nicht aus, nur die erste und zweite Bedeutung des Wortes "timor" zu kennen. Im Laufe der Zeit sei der Vers allerdings nicht angepasst worden - auch nicht als er im 19. Jahrhundert in das Knabenseminar eingelassen wurde, das später zu dem bekannten Dommuseum werden sollte.

"Die, die den Spruch dahin geklebt haben, haben nie darüber nachgedacht, welche Botenstoffe im Gehirn ausgeschüttet werden", ist Marc-Aeilko Aris überzeugt. Das sei wenig überraschend: Immerhin sind die Forschungen auf diesem Gebiet noch nicht allzu alt - etwa 20 Jahre und jünger, sagt William Mayrthaler. "Das konnten die damals noch gar nicht wissen", so der Freisinger Psychotherapeut.

"Für uns ist klar, dass das Schrott ist", sagt Domrektor Marc-Aeilko Aris

Warum dieser Spruch damals gewählt und eingemeißelt wurde; darüber könne nur spekuliert werden. Jedoch sei er in der Erziehung des 19. Jahrhunderts recht geläufig gewesen, weiß Aris: Seine Mehrdeutigkeit wurde allerdings auf die damals vorherrschenden Normen heruntergebrochen - der Spruch missbraucht, um Züchtigungen zu legitimieren. "Für uns ist das klar, dass das Schrott ist", sagt der Domrektor bezüglich der fragwürdigen Erziehungsmethoden. Zu der damaligen Zeit waren diese jedoch normal. "Da wo Texte als Machtmittel missbraucht werden, werden sie zur Waffe", mahnt Professor Aris deswegen.

Bis heute ist der Spruch geblieben. Recht prominent im Atrium des Museums überlebte er das 19. Jahrhundert und die neun Jahre Planungs-, Bau- und Modernisierungszeit, die im 21. Jahrhundert folgen sollten. Ihn zu entfernen käme aus Gründen des Denkmalschutzes nicht in Frage, erklärt der Domrektor. Etwas, was vielleicht nicht unbedingt schlecht ist - immerhin komme man so in ein Gespräch über dieses Thema. Alte Sprüche, die ebenso missverständlich sind, gebe es an vielen Denkmälern und Institutionen, so auch am Freisinger Kriegerdenkmal. Die Frage: Was damit machen, wie damit umgehen? Die Botschaften zerstören und damit vergessen oder aber sie kritisch hinterfragen, einordnen und kommentieren?

Für Professor Aris und William Mayrthaler erscheint letzteres sinnvoller. "Inschriften sind Äußerungen im öffentlichen Raum", sagt Aris. Dadurch entstehen freilich Anstöße, die diskutiert gehören. William Mayrthaler sieht das ähnlich. "Es ist ja ein Gewinn, dass der Spruch geblieben ist", sagt er. Somit könne ein Austausch und eine Diskussion ermöglicht werden, was wiederum wichtig sei, um den eigenen Horizont zu erweitern und Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen.

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