Süddeutsche Zeitung

Freisinger Blindenleitsystem:Schlecht gemacht

Bernhard Primus ist blind. Er kritisiert das Blindenleitsystem der Stadt Freising auf der Unteren Hauptstraße, wo Menschen wie er leicht die Orientierung verlieren können.

Von Thilo Schröder, Freising

Wenn Bernhard Primus sich auf der Unteren Hauptstraße in Freising bewegt, ertastet er sich mit dem kugelförmigen Ende seines weißen Langstocks den Weg. Zur Orientierung nutzt er die etwa 50 Zentimeter breite Entwässerungsrinne aus Natursteinplatten, die hier beidseitig als taktile Leitlinie für Blinde und Sehbehinderte fungiert. 15 Millimeter tief ist sie eingesenkt. Teils auch weniger, je nachdem, wie akkurat die Platten daneben verlegt worden sind. Während Primus Richtung Marienplatz läuft, schrammt sein Langstock darum immer wieder über die Kante hinaus. Dort, wo Seitengassen abzweigen, ist die Rinne unterbrochen. Wer geradeaus weiter möchte, muss den Anschluss wiederfinden, teils ist er versetzt. Wer sich zur Seite dreht, einen Plausch hält, verliert auch schon mal die Orientierung.

Gespräche waren nicht zielführend

Bernhard Primus, 53, lebt seit 35 Jahren in Freising. Seit Ende der 1980er-Jahre ist er blind. Er kennt die Altstadt, wie sie vor dem Umbau war, mit Bordsteinen, Tempo 50, viel Busverkehr. Mit dem barrierefreien, verkehrsberuhigten Umbau, wie ihn die Stadt derzeit vollzieht, ist Primus unzufrieden. "Die Politik in Freising möchte in der historischen Altstadt keine weißen Linien auf dem Boden haben", sagt er mit Verweis auf andernorts übliche Blindenleitsysteme, die sich durch gerillte, vom Boden abgehobene Linien auszeichnen. "Ein Blindenleitsystem ist hier nicht zu erkennen, beim besten Willen nicht. So was gibt's nur in Freising." Primus kritisiert: "Das Konzept für die Barrierefreiheit in Freising ist nicht zu Ende gedacht."

Im Grunde seien alle relevanten Personengruppen durch das derzeitige System ausgeschlossen: normalsehende Menschen, welche das Leitsystem als solches mit dem Auge nicht erkennen könnten, sehbehinderte Menschen, die es gewöhnt seien, sich auf einem weißen Streifen nach DIN-Norm fortzubewegen, blinde Menschen, die mangels Orientierungsfeldern nie wüssten, wo sie sich gerade befinden. Gespräche über Probleme am runden Tisch im Rathaus mit der Stadtbaumeisterin und Stadtplanern seien bislang "nicht zielführend" gewesen. "Man hatte dort den Anschein, man wäre zufrieden - aber unter diesen Voraussetzungen kann man nicht zufrieden sein", sagt Primus.

Die Stadt kennt die Kritik

Die Stadt kennt die Kritik, verweist ihrerseits auf einen "intensiven Abstimmungsprozess", bei dem "mit großer Offenheit für die Anregungen der Betroffenen" das Konzept fortentwickelt werde. In der jüngsten Sitzung des runden Tisches Ende April habe man sich darauf geeinigt, das bestehende Leitsystem anzupassen. Erkennbarkeit und die Funktionalität der taktilen Leitkante würden dadurch deutlich verbessert. Auch das Problem fehlender Durchgängigkeit werde gelöst.

An manchen Stellen will man Rillen fräsen, um die taktile Wahrnehmung zu verbessern. An anderen aber aus Sicherheitsgründen bewusst nicht, etwa entlang der nördlichen Seitengassen, bei denen auch nach Abschluss des verkehrsberuhigten Innenstadt-Umbaus mit Autoverkehr zu rechnen sei, heißt es von der Stadt. Dem Charakter einer verkehrsberuhigten Straße - ohne klare Aufteilung des Verkehrsraumes - widerspreche wiederum ein beidseitig durchgängiger kontrastreicher Streifen für Blinde und Sehbehinderte.

Geparkte Autos als Hindernisse

Die taktilen Entwässerungsrinnen sind beidseitig von einem 80 Zentimeter breiten Korridor eingerahmt. Seit vergangenem Jahr ist dieser gekennzeichnet durch blaugestrichelte Linien und Hinweisfelder. Zudem hat die Stadt einen Informationsflyer Barrierefreiheit veröffentlicht, indem sie das taktile Leitsystem erklärt und an die Rücksicht der Menschen appelliert. Vorausgegangen waren Beschwerden, unter anderem von Primus, über Hindernisse wie falsch geparkte Autos oder nachlässig abgestellte Fahrräder im Korridor, die eine Nutzung des Leitsystems blockierten. Die Stadt sieht dahingehend durch ihre Kampagne einen "ersten Erfolg" gegeben.

Es ergebe keinen Sinn, in Geschäften und Briefkästen Flugblätter mit der Bitte zu verteilen, dass man nicht auf der Regenrinne parken solle, weil es sich dabei um ein Blindenleitsystem handele, kritisiert dagegen Primus. "Es kommen ja ständig neue Leute in die Stadt, Leute von außerhalb, Lieferanten, die stellen sich alle auf die Spur. Das ist unnötig. Warum muss ich hier das Ordnungsamt durchschicken? Die Leute haben ja im Fahrunterricht gelernt, ihr Auto auf der Regenrinne abzustellen. Das müsste alles nicht sein, wenn man das nach DIN-Norm macht."

Auch Bernhard Claus kann der Kampagne für das Blindenleitsystem in Freising wenig abgewinnen. "Wenn man das so kennzeichnen muss, ist was schiefgegangen", sagt der 57-Jährige. Er ist beim Bayerischen Blinden- und Sehbehindertenbund Mitglied im Arbeitskreis barrierefreie Umwelt- und Verkehrsraumgestaltung, saß zuletzt mit am runden Tisch. "Bis jetzt fällt nicht auf, dass das ein Leitsystem ist." Die bayerische Bauordnung sehe zwar nicht vor, entsprechende DIN-Normen einzuhalten. Gleichwohl müsse im öffentlichen Raum barrierefrei gebaut werden, etwa entlang der UN-Behindertenrechtskonvention. Dadurch seien auch alternative Systeme wie in Freising möglich - wenn sie denn funktionierten.

Bedenken schon in der Planungsphase

Sein Verband habe indes schon in der Planungsphase Bedenken geäußert. Die Bayerische Architektenkammer habe der Stadt Freising jedoch zugesichert, dass das angedachte Leitsystem in Ordnung sei, klassische Varianten sähen nicht so schön aus. "Da hat man dann darauf gehört." Auf der Innenstadt-Website der Stadt heißt es: "Durch eine zurückhaltende Gestaltung der Oberflächen soll die historische Kulisse in den Blickpunkt gerückt werden." Wurde womöglich die Barrierefreiheit teilweise einer ansprechenderen Optik geopfert?

"Sicher nicht", stellt die Stadt auf Nachfrage klar. Man müsse aber beim Umbau der Innenstadt teils widersprüchliche Belange berücksichtigen, bei der Barrierefreiheit etwa auch die von älteren und mobilitätseingeschränkten Menschen, außerdem Vorgaben der Straßenverkehrsordnung, des Denkmalschutzes, technische Vorgaben oder auch Rettungswege. Bei alldem gelte es abzuwägen. Zu einem weiteren Vorwurf von Primus, es sei herabwürdigend, dass Blinde sich entlang der Entwässerungsrinnen im Abwasser bewegen müssten, äußert sich die Stadt nicht.

"Es ist ja jetzt gebaut"

Dass eine jahrelange Gesamtplanung nachträglich nicht mehr vollständig umgekrempelt wird, ist allen Beteiligten klar. "Es ist ja jetzt gebaut, die werden nicht wieder alles aufreißen und noch mal alles neu machen", sagt Bernhard Claus vom Blindenbund. "Blinde werden weiter Probleme haben, dem zu folgen." Der Freisinger Bernhard Primus hofft dennoch weiter auf ein Umdenken der Lokalpolitik: "Es muss unbedingt was passieren."

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SZ vom 05.06.2021
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