Mentorenprojekt für Kinder:Lotsen im Alltagsdschungel

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Aktion wie das Backen fördern die Kontakte. Sie wirken sich positiv auf die Kinder aus, das zeigen Untersuchungen. (Foto: Marco Einfeldt)

Bernadette Pianka und Nadine Walsh betreuen im Mentoringprogramm "Balu und Du" die Schülerinnen Rana und Beyza. Von den regelmäßigen Treffen, bei denen sie Plätzchen backen oder Eis essen, profitieren alle Seiten - nicht nur die beiden "Moglis".

Von Charline Schreiber, Freising

"Probier's mal mit Gemütlichkeit, mit Ruhe und Gemütlichkeit und schmeiß die blöden Sorgen über Bord." Ein Zitat aus dem "Dschungelbuch", das nur singend gelesen werden kann und das Bild zweier ungleicher Wesen vor dem inneren Auge erzeugt, die zusammen Erfahrungen machen, neue Dinge ausprobieren - Balu und Mogli.

Auf der Metallarbeitsfläche der Küche im Freisinger Tollhaus ist Mehl verstreut, ein fester Plätzchenteigklumpen ruht in der Schüssel daneben. "Da ist Orange und Zimt drin", sagt Bernadette Pianka, 23. Der Teig wird mit einem Nudelholz über der mehligen Fläche ausgerollt, dann suchen zwei aufgeweckte Mädchen die besten Ausstechförmchen aus. Beide tragen Stiefeletten und Rock, die achtjährige Rana zudem eine leuchtend gelbe Strumpfhose, die neunjährige Beyza eine schwarze.

Die Mädchen sind die Moglis von Bernadette Pianka und Nadine Walsh, 30. Ein Jahr lang treffen sie sich im Mentoringprogramm "Balu und Du". Das Projekt wird begleitet vom Treffpunkt Ehrenamt und bringt Kinder, die davon profitieren können, ein Mal die Woche, für einige Stunden mit freiwilligen Erwachsenen zwecks gemeinsamer Freizeitgestaltung zusammen. Diesmal werden, passend zur Weihnachtszeit, Plätzchen gebacken. Normalerweise sind die Moglis mit ihren Balus nur zu zweit. Weil sich Rana und Beyza aber gut verstehen, kommen sie gelegentlich zu viert zusammen.

Der Plätzchenduft zieht bis in die zweite Etage hinauf

Die Formen reichen vom Schneemann über Glocken, Tannenbäume und Sterne bis hin zu Schildkröten und Herzen. Die ausgestochenen Plätzchen werden sorgsam auf einem Backpapier platziert. Mit dem ersten Blech im Backofen verbreitet sich der Duft von der Küche über die Treppe bis nach oben auf die zweite Etage des Tollhauses. Für die Dekoration suchen die Mädchen Streusel aus, rühren die Puderzuckerglasur an und färben sie in verschiedenen Schalen bunt ein.

Aus dem Handy-Lautsprecher ertönen Lieder einer Weihnachtsplaylist, die Beyza und Balu Nadine dazu verleiten, eine Tanzpause einzulegen. Im Hintergrund läuft Feliz Navidad von José Feliciano. "Wisst ihr, was das für eine Sprache ist?", fragt Nadine Walsh die Moglis, noch immer tanzend. "Spanisch!", ruft Rana sofort. "Oh, sehr gut", lobt Walsh. Rana lächelt zufrieden, dreht sich um und dekoriert die erste Ladung goldbraun gebackener Plätzchen. Eine beiläufige Situation, die nur kurz andauert, aber in der Summe positiv auf die Entwicklung der Moglis wirken kann.

Bernadette Pianka und Rana kneten den Teig. (Foto: Marco Einfeldt)

Die Erfolge des Programms werden regelmäßig bewertet

Laut der Wirkungsforschung, die im Zuge des Balu-und-Du-Programmes laufend vorgenommen wird, können durch die Veränderungen des sozialen Umfelds der Kinder sozioökonomische Unterschiede ausgeglichen werden. Bei den Moglis erhöhten sich Konzentrations- und Entscheidungsfähigkeit, Selbsteinschätzung, aber auch Motivation und Bildung. Die Empfehlung für eine Gymnasialausbildung steige um 20 Prozent. Seit den Anfängen des Mentoringprogramms 2001 wurde "Balu und Du" immer wieder evaluiert und bewertet. Auch die Treffen werden in einem Gespräch alle zwei Wochen reflektiert. Dafür kommen Walsh und Pianka mit Koordinatorin Marita Hanold vom Freisinger "Treffpunkt Ehrenamt" zusammen.

Besprochen werde, was informell gelernt wurde, sagt Hanold. Informelles Lernen ziele auf das Bewältigen von Alltags- und Lebenssituationen ab. Das kann das Ziehen eines Bustickets sein oder im Falle von Beyza und Rana an diesem Tag, mit Lebensmitteln verantwortungsvoll umzugehen oder die Unordnung nach dem Backen wieder aufzuräumen. Nach den Treffen resümieren die Balus die Erlebnisse und das Gelernte in einem Online-Tagebuch und erhalten dann eine Rückmeldung von Hanold. Bundesweit fand das Mentoring 2020 an 125 Standorten statt, 22 621 Treffen wurden im Tagebuch-Tool eingetragen. Freising beteiligt sich an dem Programm seit 2017.

Nadine Walsh und Beyza rollen gerade Plätzchen Teig aus. (Foto: Marco Einfeldt)

Nicht alles, was Spaß macht, muss Geld kosten

Jedem Tandem stehen zehn Euro im Monat zur Verfügung, damit muss gehaushaltet werden. "Die Moglis müssen sich dann entscheiden: Wollen sie jetzt ein Eis haben oder vielleicht doch auf etwas Größeres sparen." Die Kinder sollen so lernen, Prioritäten zu setzen und herausfinden, was ihnen wichtig ist. Nicht alles müsse Geld kosten, erzählen Bernadette Pianka und Nadine Walsh. Sie haben auch schon Steine bemalt, sind im Sommer Inliner gefahren. All das koste kein Geld. Teilweise wird "Balu und Du" aber auch von externen Institutionen unterstützt, wie vom Freisinger Schwimmbad "Fresch", das einen freien Eintritt ermöglicht.

"Manchmal frage ich mich auch, wer von uns Balu und wer Mogli ist, ne?" Beyza drückt sich an Walsh, presst ihre Lippen zusammen und lächelt. Bevor die 30-Jährige Beyzas Balu wurde, habe sie gezögert, erzählt sie. Der Zeitaufwand, die Verpflichtung, darüber sei sie immer wieder gestolpert. Auch für Pianka war zu Beginn der Zeitfaktor eine Hemmschwelle. Dann will Nadine Walsh etwas sagen. Sie zögert erst, will nicht kitschig klingen, wie sie sagt. Das sei nicht ihr Ding. Aber dann kommt sie über die gemeinsame Zeit mit ihrem Mogli doch ins Schwärmen. Sie mache das "einfach so gerne", erzählt sie begeistert. "Man lernt viel voneinander".

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Das Ehrenamt empfinden sie als Freizeit

Beide Frauen sehen ihr Ehrenamt als Freizeit an. Das Problem sei aber, dass viele potenzielle Balus vor der zeitlichen Verantwortung zurückschrecken. Es gebe viele interessierte Moglis, aber zu wenig Balus, sagt Walsh. Beyzas Schwester hat bereits am Programm teilgenommen. Beyza musste drei Jahre lang auf ihren Balu Nadine warten. Das lag allerdings auch daran, dass die Kinder in der zweiten oder dritten Schulklasse sein müssen. Erst- und Viertklässler werden nicht aufgenommen.

Die Balus lassen ihren Moglis viel Raum. Es ist nicht schlimm, wenn die Streusel mal daneben fallen, ein Plätzchen im Übermut auf dem Boden landet und zum Kollateralschaden wird oder ein Vorhaben nicht funktioniert. Pianka und Walsh maßregeln nicht, sie leiten an und geben den Kindern Tipps. Durch die Nähe zueinander kann es sein, dass die Moglis sich ihren Balus mit der Zeit anvertrauen, über Probleme sprechen. Rana und Beyza lassen Schwierigkeiten eher selten durchblicken, erzählen die beiden Balus. Sie habe Beyza immer als ein unbeschwertes Kind erlebt. "Unter der Oberfläche kann das natürlich immer anders aussehen", sagt Walsh. Die beiden Mädchen erzählen, dass sie in der Schule genervt vom Tragen der Maske sind. "Manchmal kann ich nicht richtig atmen", sagt Beyza leise. Nebenbei dekoriert sie die Plätzchen mit gelbem Zuckerguss, zwischendurch landet immer mal wieder eins im Mund. Mittags gebe es eine Maskenpause. Die sei toll, und Rana ergänzt, dass sie sich freut "wenn das irgendwann aufhört".

Froh über einen festen Termin in der Woche

Die persönlichen Treffen seien während der Lockdowns ausgesetzt worden, berichtet Hanold. Trotzdem sei das Mentoring über einen Postkartenaustausch, Online-Gespräche und coronakonforme Aktionen weitergelaufen. "Balu und Du" habe ihr im Corona-Alltag eine Struktur gegeben, erzählt Pianka. Die 23-Jährige studiert molekulare Biotechnologie, dieses und das vergangene Jahr seien aber viel von Online-Vorlesungen geprägt gewesen. "Ich war einfach froh darüber, dass ich in der Woche wenigstens einen festen Termin hatte", sagt sie. Und für Nadine Walsh, deren Arbeitgeber die Lufthansa ist, ist die lange Durststrecke durch die Kurzarbeit so erträglicher geworden, sie habe die Zeit sinnvoll genutzt, sagt sie.

Das Mentoring richtet sich generell an Kinder, denen das außerschulische Angebot bei der Persönlichkeitsentwicklung helfen kann, die ein offenes Ohr benötigen. "Balu und Du ist ein Programm für bedürftige Kinder, bedürftig heißt aber nicht nur sozial schwach", betont Marita Hanold. Die Gründe, warum Kinder als Mogli angemeldet werden, seien vielfältig. Die Lehrerinnen und Lehrer im Landkreis kennen das Programm und hätten bestimmte Kinder dafür im Blick. Das könne das Kind einer alleinerziehenden Mutter sein, für das es wichtig sein könnte, eine männliche Begleitperson zu bekommen, oder auch Mädchen und Buben mit geringen Deutschkenntnissen. Für Kinder wie Rana und Beyza seien die wöchentlichen Treffen eine Möglichkeit, sich auszutauschen und Neues dazuzulernen, sagt Hanold. Und das gilt gleichermaßen für Bernadette Pianka und Nadine Walsh.

Von den 26 Plätzchen, die an diesem Nachmittag noch nicht vernascht wurden, ist das schönste ein großes, grünes Herz mit silbrigen und lila Streuselkugeln, findet Rana. Das nächste Mal wollen die Moglis zusammen mit ihren Balus Pizza backen. Pianka zuckt mit den Schultern und meint dazu nur kurz: "Okay, dann Pizza."

© SZ vom 18.12.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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