Fast doppelt so viele wie 2004:Immer mehr Multi-Jobber im Landkreis Freising

Junge Frau parkt ihr Fahrrad vor der Agentur für Arbeit, Köln, Nordrhein-Westfalen, Deutschland, Europa *** Young woman

Die Zahl an Menschen, die neben dem Vollzeitjob noch einer weiteren Tätigkeit nachgehen, steigt laut Arbeitsagentur auch im Landkreis Freising an(Symbolbild).

(Foto: imago images/imagebroker)

Seit 2004 hat sich die Zahl der Mehrfachbeschäftigten laut Arbeitsagentur fast verdoppelt. Politiker von Linken und CSU machen niedrige Löhne und hohe Mieten im Landkreis dafür verantwortlich.

Von Thilo Schröder, Freising

Die Zahl der Menschen mit Nebenjob in Deutschland steigt weiter. Um rund 3,6 Prozent auf 3 538 000 stieg sie bis Ende Juni 2019 im Vergleich zum Vorjahresmonat. Das geht aus einer Antwort der Bundesagentur für Arbeit auf eine Anfrage der Linken im Bundestag hervor. Im Landkreis Freising liegt der Anstieg der Mehrfachbeschäftigten mit 4,1 Prozent über dem Bundesschnitt, teilt die Arbeitsagentur Freising mit. Linken-Kreisrat und DGB-Kreisvorsitzender Guido Hoyer macht niedrige Löhne, hohe Mieten und Tarifflucht verantwortlich. Er fordert, wie sein Bundesverband, einen höheren Mindestlohn. Erich Irlstorfer, CSU-Bundestagsabgeordneter, warnt dagegen vor undifferenzierter Dramatik, sieht aber auch eine "traurige Entwicklung".

11 740 Multi-Jobber gab es laut der Arbeitsagentur Freising Ende Juni 2019, dem letzten Erhebungszeitpunk, im Landkreis Freising. 11 273 waren es im Vorjahr. Ein Blick 15 Jahre zurück offenbart einen langfristigen Trend: Denn seit 2004 ist die Zahl um 90,6 Prozent gestiegen, es gibt heute also fast doppelt so viele Mehrfachbeschäftigte.

Die meisten von ihnen (95,8 Prozent) arbeiten mehrfach sozialversicherungspflichtig. Und davon wiederum arbeitet das Gros in einem Hauptjob und geht einer oder mehreren geringfügigen Beschäftigungen nach (93,3 Prozent). Auch hier liegt Freising über dem Bundesschnitt, der bei geschätzt 85 Prozent liegt. Unter dieser Gruppe gab es im Landkreis seit 2004 den stärksten Anstieg (plus 5300 oder 102 Prozent).

Betroffen sind zum Beispiel Reinigungskräfte oder auch Polizisten

"Gerade hier bei uns in der Flughafenregion ist das ein Thema", sagt Guido Hoyer und verweist auf den Niedriglohnsektor: Bodenpersonal, Reinigungskräfte gehören dazu. Aber auch in anderen Berufen reiche der Vollzeitjob manchmal nicht aus. "Mir sind durchaus Fälle bekannt, etwa von Polizisten, die sonntags in der Tanke arbeiten." Ob zusätzliche Jobs freiwillig oder aus der Not heraus angenommen werden, das sei natürlich eine Einzelfallfrage. "In der Regel ist es von den Leuten aber nicht so gewollt. Das ist eine deutliche Negativentwicklung", sagt Hoyer.

Laut einer aktuellen Studie der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung sind für 53 Prozent der Befragten finanzielle Schwierigkeiten oder Nöte ausschlaggebend für eine Nebentätigkeit. Man müsse darum differenzieren, fordert Erich Irlstorfer, der für die CSU im Bundestag sitzt: "Reden wir hier über Studenten mit zwei Nebenjobs? Oder über eine klassische Familie, bei der einer Vollzeit arbeitet und der Partner einen oder zwei Nebenjobs aufnimmt? Oder über Rentner, die weitermachen wollen? Oder über eine Freizeitgestaltung mit Nebenverdienst?" Doch auch Irlstorfer weiß: "Es gibt durchaus auch andere Fälle - das ist die traurige Entwicklung - hier geht es um existenzielle Nöte."

Studenten, aber auch etwa ungelernte Arbeiter, üben zum Teil ausschließlich geringfügige Jobs parallel aus. Die machen laut Arbeitsagentur in Freising allerdings nur einen sehr geringen Anteil an den Multi-Jobbern aus (zuletzt 492 oder 4,2 Prozent). Ihre Zahl war zuletzt sogar leicht rückläufig (minus 4,7 Prozent gegenüber 2018). Langfristig steigt aber auch die Zahl der Multi-Nebenjobber, seit 2004 um rund 40 Prozent.

"Wer Vollzeit arbeitet, sollte davon leben können"

Die Möglichkeit einer geringfügigen Beschäftigung, etwa in Form von Minijobs, sei grundsätzlich ein wichtiges Instrument, betont Irlstorfer: "Nebenjobs brauchen wir auch, gerade im halbehrenamtlichen Bereich", etwa bei Übungsleitern im Sport. Und es gebe Fälle, bei denen für nicht unbedingt existenzielle Vorhaben wie Urlaub gespart werde. Klar sei jedoch: "Wer Vollzeit arbeitet, sollte davon leben können."

Um Problemen, die dem Mehrfachjobben häufig zugrunde liegen zu begegnen, haben die Politiker unterschiedliche Ansätze. "Der Mindestlohn muss erhöht werden", sagt Hoyer. Für bezahlbare Mieten, die oft den Löwenanteil des Lohns zehren, müsse gesorgt werden, etwa über das derzeit angestrengte Volksbegehren Mietenstopp. "Da ist auch der Freistaat in der Pflicht."

Von staatlichen Regelungen halte er nichts, sagt hingegen Irlstorfer. Um den Mietmarkt zu stabilisieren, müsse man "denjenigen, die Wohneigentum haben, sagen: Eigentum verpflichtet". Er sei auch "dafür, in Bildung, Aus- und Weiterbildung, zu investieren", um mehr Aufstiegsmöglichkeiten zu ermöglichen, sagt Irlstorfer. Und "Ich baue auf unser Tarifrecht: ordentliche Löhne für ordentliche Arbeit." Eine Regionalkomponente müsse darin aber noch aufgenommen werden, um stark auseinandergehenden Lebenshaltungskosten gerecht zu werden. "Immer weniger Unternehmen befinden sich in Tarifbindung", gibt Hoyer zu bedenken.

Die zuletzt steigende Tendenz sei auch eine Folge der Agenda 2010. Die rot-grüne Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder (1998-2005) hatte seinerzeit die Bedingungen des Arbeitsmarkts und Sozialsystems stark liberalisiert: "Vorher wär mir das nicht bekannt", sagt dazu Guido Hoyer.

Gegenüber Landkreisen im Umland fällt die Zunahme an Multi-Jobbern im Landkreis Freising im Übrigen noch relativ moderat aus. In Erding beispielsweise stieg ihre Zahl seit 2004 um knapp 200 Prozent, in Dachau um 140, in Ebersberg um 130 Prozent.

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