Süddeutsche Zeitung

SZ-Adventskalender in Freising:"Nachholbedarf ist extrem"

Die Corona-Krise hat Familien viel abverlangt. Auf der Strecke geblieben sind vor allem Kinder aus sozial benachteiligten Haushalten, wie Eva Bönig, Vorsitzende des Kinderschutzbunds, kritisiert.

Von Gudrun Regelein, Freising

Monatelanger Lockdown, Homeschooling, Notbetreuung in den Kitas, Kontaktbeschränkungen und keine Freizeitaktivitäten - die Kinder und Jugendlichen zählen für Eva Bönig, Vorsitzende des Kinderschutzbundes Freising, zu den großen Verlierern dieser Pandemie. Besonders betroffen sind Kinder aus sozial benachteiligten Familien. Der SZ-Adventskalender für gute Werke will sie unterstützen und dazu beitragen, dass sie durch die Corona-Krise nicht abgehängt werden.

Dass Kinder und Jugendliche die Vergessenen dieser Pandemie sind, bestätigt die Studie "Jugend in Deutschland" aus diesem Oktober. 40 Prozent der Jugendlichen gaben an, dass sich durch die Krise ihre psychische Gesundheit verschlechtert habe, 37 Prozent beklagten einen Kontrollverlust bei der Alltagsgestaltung, im Schul- und Berufsleben und in persönlichen Beziehungen. In der Vollversammlung der Psychosozialen Arbeitsgemeinschaft (PSAG) Freising hieß es kürzlich, dass - bedingt durch die Pandemie - die Auffälligkeiten bei Kindern und Jugendlichen zugenommen haben. Die Kapazitäten der Kinder- und Jugendhilfe seien erschöpft.

Viele Kinder verlieren den Anschluss

Neben den sozialen Defiziten sind nach vielen Monaten Homeschooling die Bildungsdefizite gerade bei Kindern aus Familien größer geworden, in denen die Eltern nicht in der Lage sind, ihre Kinder zu unterstützen. Der Nachholbedarf sei zum Teil extrem. "Viele Kinder werden in der Krise abgehängt, gerade beim Thema Schule und Teilhabe verlieren sie immer mehr den Anschluss", sagt Eva Bönig. Vieles, wie Förderangebote, die ehrenamtliche Nachhilfe oder Hausaufgabenbetreuung, konnte über viele Wochen hinweg nicht mehr angeboten werden. Dazu seien zahlreiche Familien wegen Jobverlust oder Kurzarbeit in finanzielle Not geraten, beim Kinderschutzbund gebe es deswegen viele Anfragen. Wenn nicht einmal mehr die Energierechnungen bezahlt werden könnten, fehle auch das Geld für Schulmaterialien, schildert Bönig.

Arm bedeute zwar nicht automatisch bildungsfern, betont sie. Aber tatsächlich würden in der Corona-Krise viele der Kinder aus sozial benachteiligten Familien in ihrer Entwicklung gewaltig zurückgeworfen. Oftmals seien Bildungsübergänge empfindlich gestört worden. Bildung, so sagt Bönig, könne zwar ein Weg aus der Armut sein - aber für viele sei dieser durch die Corona-Krise sehr erschwert oder sogar verbaut worden. "Potenzial, das da wäre, bleibt nun ungenutzt." Von einer Chancengleichheit könne man nicht mehr sprechen: Beim Homeschooling beispielsweise habe in manchen Familien sogar der Internetanschluss gefehlt, in anderen der Computer. Die Stadt Freising habe zwar dafür gesorgt, dass viele Familien sehr rasch ein Tablet bekamen, aber: "In vielen Familien gibt es keinen Wlan-Anschluss". Genauso wenig einen Drucker oder einen eigenen Arbeitsplatz für die Kinder.

Daneben seien Förderangebote weggebrochen. Bei den Cleverkids, dem gemeinsamen Nachhilfeprojekt vom Kinderschutzbund Freising, der Caritas Freising und der Katholischen Jugendfürsorge, habe es zwar digitale Angebote gegeben, viel sei auch über Telefonate geschehen. "Aber das war alles nur Behelf."

Ein Puzzle aus negativen Erfahrungen

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Dazu kamen Kontaktbeschränkungen - und in vielen Familien ein oft beengter Wohnraum. "Das alles ergab ein großes Konfliktpotenzial innerhalb der Familien. Mit gravierenden Auswirkungen für die Kinder", schildert Bönig. Ein Kind könne so eine Situation nicht rational einordnen. Die Monate der Corona-Krise seien wie ein riesiges Puzzle aus negativen Erfahrungen gewesen. Ängste seien gewachsen, das Depressionsrisiko habe stark zugenommen. Wenn die Themen Armut, Arbeitslosigkeit und Resignation ganz groß seien, schafften es viele Eltern nicht mehr, sich und ihren Kindern einen geregelten Tagesablauf zu geben. Im Homeschooling aber sei vieles auf die Eltern abgewälzt worden, sagt Bönig. "Viele haben das auch noch geschafft, viele andere aber eben nicht." Auch die Sprachentwicklung bei Kindern mit Migrationshintergrund habe stagniert - oder sogar "irrsinnige Rückschritte" gemacht.

"Wenn das mit dem Rauf- und Runterfahren noch monatelang so weitergeht, dann wird das sicher ganz gravierende Langzeitfolgen haben", warnt Bönig. Ein weiterer Lockdown und damit verbundenes Homeschooling wäre eine Katastrophe: "Kinder sehen in dieser Situation keine Perspektiven mehr - und die Eltern drehen schon jetzt am Rad."

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Quelle:
SZ vom 27.11.2021
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