Süddeutsche Zeitung

Experten aus Erfahrung:Hilfe in seelischen Krisen

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Bei der Caritas betreuen psychisch Kranke andere Betroffene

Von Clara Lipkowski, Freising

Veronika D. weiß sehr gut wie es ist, eine seelische Krise zu erleiden. Nach mehreren Aufs und Abs hat sie diese Krisen inzwischen aber überwunden. Nun gibt sie ihr Wissen weiter, um anderen Betroffenen psychischer Erkrankungen zu helfen.

Das ist das Prinzip des Programms Ex-In, kurz für Experienced Involvement, also die Einbeziehung Psychiatrieerfahrener. In einer einjährigen Ausbildung beim Münchner Verein "Trialogische Arbeitsgemeinschaft Ex-In" hat Veronika D. Seminare besucht und Praktika absolviert. Drei Bedingungen gebe es, in das Programm aufgenommen zu werden, beschreibt die 56-Jährige, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will: "Man muss an der eigenen Seele eine psychische Krise erfahren haben, bereit sein, darüber zu reflektieren, und ganz wichtig: bereit sein, zuzuhören."

Sie erfuhr über ein Psychose-Seminar von der Ausbildung und zögerte nicht lange. Nach der Weiterbildung hatte sie Glück: Beim Caritas Zentrum in Freising war eine Stelle als Genesungsbegleiterin frei. Dorthin können sich Menschen wenden, die mit psychischen Erkrankungen zu kämpfen haben, etwa mit Psychosen, Manien oder Depressionen. Seit Februar 2016 nimmt Veronika D. als Expertin an Gesprächen mit Betroffenen teil - alleine oder mit Unterstützung einer dritten Person, einem professionellem Sozialpädagogen. "In den Dreiergesprächen haben die Profis natürlich das Know-How, das Gespräch therapeutisch zu führen", sagt Veronika D.. "Ich kann inhaltlich helfen, zeigen, wie man Warnzeichen einer Psychose erkennt und Lösungen vorschlagen, was man tun kann, wenn ein Zusammenbruch droht." Eine Klientin etwa wusste Stimmungsschwankungen und starke Zweifel nicht zu deuten, eine schwere Krise deutete sich an. "Wenn ich von meinen Erfahrungen berichte, erkennen sich die Klienten wieder, sagt D.: "Das hilft, die eigene Situation zu verstehen und rechtzeitig zu handeln", sagt sie.

In therapeutischen Einrichtungen ist der Einsatz von Psychiatrieerfahrenen seit langem üblich. "Akut Betroffene sehen, dass es anderen Menschen wie ihnen geht, sie das aber für sich zu nutzen gelernt haben. Dadurch nehmen Genesungsbegleiter eine Vorbildrolle ein", sagt Kristina Kluge-Raschke, Leiterin des sozialpsychiatrischen Dienstes der Caritas. Außerdem könnten die Begleiter aus einem Wissen schöpfen, das die Sozialpädagogen in der Regel nur aus der Theorie kennen.

Sieben bis acht Stunden pro Woche arbeitet Veronika D. für die Caritas. "Die Stellen werden in reduzierter Stundenzahl vergeben, weil die Arbeit für die Begleiter sehr belastend sein kann", sagt Kristina Kluge-Raschke. Für die Pädagogin ist Veronika D. Kollegin, nicht Betroffene. Für D. ist das eine wichtige Wertschätzung. Die Arbeit empfindet sie weniger als belastend - im Gegenteil: "Sie gibt mir eine Menge Kraft. Ich habe das Gefühl, ich stehe mitten drin, im Leben. Es klingt paradox, aber obwohl ich es schaffe, eine Distanz zu haben, zu Klient und Krankheit, bin ich gleichzeitig total involviert - und kann so am besten helfen", sagt sie. Und grinst: "Da finde ich amtliche Angelegenheiten oder Computerarbeit belastender."

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SZ vom 09.01.2017
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