Die "Städtische Volksbücherei":Dunkle Kapitel einer Stadt

Das Freisinger Asamgebäude hat von 1934 an eine "Städtische Volksbücherei" beherbergt, in der nationalsozialistische Literatur ausgeliehen werden konnte. Fünf Bücher aus dieser Zeit bewahrt das Stadtarchiv auf

Von Nina Witwicki

Der Holzboden knarrt, die alten Fenster zerfallen, der Putz bröckelt von den Wänden und es liegt ein modriger Geruch in der Luft. Dennoch lässt sich erahnen, wie prachtvoll das Asamgebäude einst gewesen sein muss. Das etwa 300 Jahre alte Bauwerk war schon immer zentraler Mittelpunkt des öffentlichen Lebens in Freising, wurde es doch als fürstbischöfliche Hochschule erbaut. Was viele aber nicht wissen: Zur Zeit des Dritten Reiches befand sich darin nicht nur eine Realschule, sondern auch die "Städtische Volksbücherei Freising" samt Lesesaal: Im ersten Stock konnte von Ende 1934 an bis zum Einmarsch der Amerikaner nationalsozialistische Literatur ausgeliehen und gelesen werden.

Heute ist davon nichts mehr zu sehen. Überbleibsel und Informationen über die Bücherei finden sich nur noch verteilt in Zeitungsartikeln aus dieser Zeit.

Bibliotheken sind gemeinhin ein Hort des Wissens. Von der Unterhaltungsliteratur über das Geschichts- und Fachbuch - hier ist alles zu finden. Doch zu der Zeit, als in Deutschland Antisemitismus und Faschismus herrschten, entschied der Staat, was der "gute Nationalsozialist" zu lesen hatte. Viele Bücher waren verboten, wurden gar öffentlich verbrannt, ihr Besitz war unter Strafe gestellt. Darunter fanden sich nicht nur Schriften jüdischer Autoren, sondern beispielsweise auch Werke von Erich Kästner, Bertolt Brecht und Kurt Tucholsky.

Am 4. November 1934 wurde die Städtische Volksbücherei Freising feierlich eröffnet. Das "hohe Kulturgut" der deutschen Dichter und Denker sollte allen deutschen Volksgenossen zugänglich gemacht werden, besonders denjenigen, die bisher aus finanziellen Gründen darauf verzichten mussten. Als die "vornehmste und ehrenvollste Aufgabe" sei die Volksbücherei allzeit mit Kräften bestrebt "nationalsozialistisches Bildungsgut ins Volk zu tragen" und sollte "dafür besorgt sein, daß die nationalsozialistische Weltanschauung siegreich den letzten Volksgenossen durchdringt", heißt es im Eröffnungsartikel vom 4. November 1934.

Die Idee für die Bücherei war bereits 1933 entstanden. Ein Jahr später wurde sie auf Initiative des "Kampfbundes für Deutsche Kultur" - eines Vereins, der die Ideologie weitertragen und nationalsozialistische Volksbüchereien im ganzen Land schaffen sollte - mit Unterstützung des damaligen Freisinger Oberbürgermeisters Karl Lederer verwirklicht. Lederer stammte aus Tüntenhausen und hatte das Amt von Juli 1933 bis 1942 inne. Er war überzeugter Nationalsozialist und Mitglied des Stabes von Rudolf Heß (Stellvertreter Hitlers). Geleitet wurde die Volksbücherei von einem Parteigenossen namens Doktor Martin. Ende 1939 leitete laut Adress- und Telefonbuch der Stadt dann der Hauptlehrer und Schulleiter der Knabenvolksschule Freising-Altstadt (frühere und spätere Volksschule St. Georg), Adolf Weißauer, die Bibliothek.

Martin endete in seiner Rede zur Eröffnung 1934 mit den Worten: "Möge aus dieser Bücherei für den einstigen Gegner die innere Klarheit und Ueberzeugung kommen, daß die nationalsozialistische Weltanschauung die einzige ist, die unser Volk vorwärts treiben und zu einem ewigen Leben führen kann!" Und weiter: "Mögen auch die Parteigenossen und allen voran die deutsche Jugend diese Bücherei fleißig benützen, denn sie ist die ewig sprudelnde Quelle, aus der die Spannkraft für die Arbeit der Zukunft quillt!".

Die Städtische Volksbücherei hatte Samstag und Sonntag vormittags oder nachmittags geöffnet. Jedes Buch konnte zwei Wochen lang zu einem Preis von zehn Pfennig pro Buch ausgeliehen werden. Zudem gab es sogenannte Bücherberatungsstunden, in denen man sich über Werke informieren, Fragen an die Buchwarte stellen und Bücherwünsche äußern konnte. Aus der Zeitung von damals geht hervor, dass die Bücherei zu Beginn über ein Sortiment von etwa 1500 Büchern verfügte; als Gesamtziel für die nächsten Jahre war ein Bestand von 5000 bis 6000 Bänden deutschen Schrifttums angestrebt. Die Werke stammten hauptsächlich von privaten Spendern, der Vereinigung für Volksbildung und dem Stadtrat. Bestandteil waren außerdem Bücher der Wanderbücherei der bayerischen Staatsbibliothek.

Die Stadtbücherei war in fünf Abteilungen gegliedert: Die erste trug den Namen "Nationalsozialistisches Schrifttum". 1934 fanden sich unter den 104 Bänden unter anderem Hitlers "Mein Kampf", Rosenbergs "Mythos des 20. Jahrhunderts" und Bücher von Joseph Goebbels. In der zweiten Abteilung mit 619 Büchern waren die Genres schöne Literatur und Belletristik untergebracht. Die deutschen Klassiker wie Goethe und Keller liefen unter der Kategorie drei: "Literaturgeschichtliches, Poesie, Erdbeschreibung und Technik."

In der vierten Abteilung gab es schließlich "Kulturelles, Geschichte und Politik, das Buch der Frau und die Wanderbücherei der Staatsbibliothek" mit 378 Medien. Darin enthalten waren beispielsweise Richard Wagners Tagebücher und Briefe sowie Chamberlains "Grundlage des 19. Jahrhunderts." Die kleinste und letzte Kategorie war mit 62 Büchern lediglich für die Jugend gedacht.

Jede Abteilung hatte ihren eigenen Buchwart. Zum Fundus gehörten nur Bücher, die von der NSDAP genehmigt waren und NS-Ideologie oder deutsche Heldengeschichte enthielten. Denn die Volksbücherei sollte "Mittlerin" sein, "das nationalsozialistische Gedankengut in die aufnahmebereiten Herzen derer zu leiten, die guten Willens sind an dem Ausbau" des Dritten Reiches mitzuarbeiten.

Das NS-Regime war bereits nach der Machtergreifung darauf bedacht, seine rassistische Ideologie in die Köpfe von Kindern und Jugendlichen zu pflanzen. Aus einem Artikel vom 16. Februar 1935: "Das geistige und seelische Antlitz der heranreifenden deutschen Jugend beginnt sich unter der Idee des Nationalsozialismus bereits zu formen." Es sollten regelrecht regimetreue Erwachsene gezüchtet werden, die ihrem Führer verbunden sind und die Taten seiner Regierung nicht in Frage stellen. Die Knaben wurden in die Hitlerjugend, Mädchen in den Bund Deutscher Mädchen oder das Jungvolk gesteckt. Die Leitung der Bibliothek rief im Februar 1935 dazu auf, dass die Bevölkerung speziell wertvolle Bücher für die Jugendabteilung spenden solle, da "die geistige Betreuung und weltanschauliche Schulung des kostbarsten Gutes, das die Nation besitzt, ihrer Jugend" eine dringliche Aufgabe sei.

"Ihr deutschen Jungen und Mädel, legt ein gutes Jugendbuch bereit, wenn die Sammler an Eure Türe klopfen und gebt Eurer Jugendabteilung eine reich sprudelnde Quelle geistiger und seelischer Kraft zu schaffen im Dienste des inneren Ausbaues der großen deutschen Volksgemeinschaft, die Ihr, groß geworden, weiter und tiefer auszugestalten und zu formen habt."

Informationen des Stadtarchivs zufolge war Freising während des Regimes der Nationalsozialisten eine Stadt wie jede andere, durch und durch zersetzt von Parteigenossen der NSDAP. In Freising gab es zwar viele Parteimitglieder, da es sich aber schon damals um keine klassische Arbeiterstadt handelte, ist davon auszugehen, dass Bildungsbürger und Katholiken nicht sehr vom Nationalsozialismus überzeugt waren. Ein Indiz dafür findet sich in einem Amtsschreiben des damaligen stellvertretenden Bürgermeisters, der mitteilt, dass die Städtische Volksbücherei nicht "ausreichend in Anspruch genommen" werde. Weitere Hinweise lassen sich auch in Zeitungsartikeln finden, in denen die Leitung der Städtischen Volksbücherei immer wieder die Bevölkerung dazu aufruft, das Angebot der "Vaterstadt" doch zu nutzen, denn "das deutsche Buch" gehöre "dem deutschen Volke".

Ein Ausnahmefall in der Stadt waren ohnehin die Menschen auf dem Domberg. Sie lehnten sich gegen die Nazis auf. Gläubige wurden deshalb von den Machthabern davon abgehalten, in die Kirche zu gehen, der Gottesdienst wurde gestört. Michael Höck Regens, Leiter des Priesterseminars, gehörte zu denen, die in Konzentrationslager verschleppt wurden.

Die Städtische Volksbücherei bestand vermutlich bis zum Einmarsch der Amerikaner 1945. Was danach mit dem großen Bücherbestand geschah, ob die Bücher verbrannt oder beschlagnahmt wurden, ist unklar. Es finden sich kaum behördliche Unterlagen, die auf die Existenz der ersten öffentlichen Bücherei in Freising hinweisen. Lediglich fünf Bücher mit dem Stempel der Städtischen Volksbücherei haben durch Umwege ins Freisinger Stadtarchiv gefunden und können dort begutachtet werden.

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