Generationen diskutieren eine einigende Idee :Infiziert mit Demokratie

Lesezeit: 12 Min.

Zwei Generationen ein Thema: Sibylle Schmidtchen (links) und Philomena Böhme reden über Demokratie. (Foto: Marco Einfeldt)

Sybille Schmidtchen und Philomena Böhme trennen mehr als 50 Jahre. Was sie verbindet, ist leidenschaftliches politisches Engagement und ein klares Bekenntnis zu den Werten des Grundgesetzes. Ein Gespräch über frühere Errungenschaften, digitale Umbrüche und notwendige Erziehungsprozesse.

Von Henrike Adamsen und Kerstin Vogel

Die Freisinger SZ hat die "Lange Nacht der Demokratie" zum Anlass genommen, mit Sybille Schmidtchen, 74, frühere SPD-Gemeinderätin aus Eching, und Philomena Böhme, 21, Stadträtin der Freisinger Mitte über ihre Sicht auf die Demokratie zu sprechen. Am Ende war man beim "Du", auch wenn Schmidtchen das normalerweise nicht so schnell über die Lippen kommt, wie sie sagte.

SZ: Frau Schmidtchen und Frau Böhme, was bedeutet Demokratie für Sie?

Schmidtchen: Was es für mich bedeutet, begründet sich in der Entwicklung der Demokratie. Denn ab einem gewissen Alter hat man viele Veränderungen der Demokratie mitgemacht. Für mich bedeutet es zweierlei: Meinen Schülern habe ich die Demokratie als Herrschaftssystem beigebracht und dann ist Demokratie natürlich was wir leben, unser way of life. Wir haben alle die gleichen Rechte, wir haben gleiche Wahlen - das ist nicht immer so gewesen. Bis 1958 hatte der Mann ja noch die Möglichkeit, den Beruf seiner Frau zu kündigen und über das Geld zu verfügen und erst 1977 wurde die absolute Gleichberechtigung per Gesetz festgelegt.

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Erst seitdem unterlagen Frauen auch nicht mehr der Regelung, dass sie einen Beruf nur dann ausüben konnten, wenn sie gleichzeitig den Haushalt führen und ihren Mann versorgen konnten. Das sind Entwicklungen gewesen, die erst dazu geführt haben, dass wir die Freiheiten genießen können, die das Grundgesetz festgeschrieben hat. Das war ein langer Entwicklungsprozess und so wie ich das heute sehe, ist die Gesellschaft wieder in einem starken Umbruch begriffen und da muss sich Demokratie sicherlich wieder verändern.

Böhme: Mir sind sofort ein paar Schlagworte in den Kopf gekommen: Mitgestalten, Transparenz, Freiheit. Für mich ist Demokratie das absolute Privileg, sein eigenes Umfeld mitgestalten zu können und es ist unheimlich wichtig, sie aufrecht zu erhalten, nicht nur für uns, sondern auch für zukünftige Generationen. Wir sollten unsere Demokratie bewusst wertschätzen und keiner Radikalität Raum geben, sondern weiter an ihr arbeiten und ihre Vorteile zu schätzen wissen, das, finde ich, geht ab und zu ein bisschen unter.

Verschiedene Generationen, eine gemeinsame Leidenschaft für Politik und die Werte der Demokratie: Sybille Schmidtchen (links) und Philomena Böhme sind leicht miteinander ins Gespräch gekommen. (Foto: Marco Einfeldt)

SZ: Wie nehmen Sie Demokratie in Ihrem Arbeitsalltag als Politikerinnen wahr?

Böhme: Bei mir beschränkt sich das nicht nur auf den Arbeitsalltag. Demokratie lebe ich immer, vor allem in meinem Freundeskreis. Ich habe viele Freundinnen und Freunde, die sich überhaupt nicht für Politik interessieren und die dann über mich mitbekommen, welche Strukturen es gibt und was man als Politikerin alles bewegen kann. So ist deren Interesse gewachsen und mittlerweile spricht mich ein Großteil an: "Hast du das schon gehört?" oder "Ich hab jetzt wieder gelesen...". Das ist schön zu beobachten.

SZ: Meinen Sie, Demokratie kann ansteckend sein, indem man mehr darüber spricht?

Böhme: Ja, ich glaube, die Begeisterung für Demokratie kann ansteckend sein. Wenn man die Vorteile nicht sieht, wenn man sich nicht damit beschäftigen, dann kann man da nichts verändern. Aber wenn ich darüber spreche und klar wird, "Ah okay, das kann ich bewegen", und wofür Demokratie gut ist, dann kann das funktionieren. In meinem Kindergarten versuche ich das auch schon mit einzubringen.

Schmidtchen: Ja, denn das ist ein Erziehungsprozess. Ich war 42 Jahre im Schuldienst und das ist ein ganz wesentlicher Grundstein, den man dort anfängt zu legen. Diese Möglichkeit, den Schülerinnen und Schülern klarzumachen, dass man nicht alleine da ist und es wichtig ist, was in der Gemeinschaft passiert. Dass wir alle miteinander ein gutes Leben haben und dass wir Konflikte lösen können. Das ist ein Prozess, den muss man in der Schule anfangen und der wird in den Familien aus meiner heutigen Sicht zu wenig geübt. Es geht darum zu erleben, wie jemand anders eine Situation wahrnimmt, dass man sich austauschen muss und man den Mut haben muss, seine eigenen Ideen einzubringen.

Sybille Schmidtchen aus Eching
:Viele Impulse

Die frühere Gemeinderätin, 74, engagiert sich seit Jahren für Kinder und die Kultur

Unsere Generation hat sich viele demokratische Freiheiten erarbeiten müssen und da hat man früh gemerkt, dass man alleine nichts bewirkt. So kommt man dazu, sich politisch zu engagieren und zu versuchen, andere mit ins Boot zu holen.

Können Sie sich denn eine bessere Staatsform vorstellen, in der Sie leben möchten oder sind wir schon am Ende der Entwicklung angekommen?

Böhme: Kann ich mir eine bessere Staatsform aktuell vorstellen? Nein. Ist noch Verbesserungsbedarf? Ja. Ich halte mich da gerne an Winston Churchill, der gesagt hat: "Die Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen, ausgenommen aller anderen." Es gibt noch viel, das man positiv verändern kann und muss. Man sollte nie aufhören, etwas zu verändern und stehen zu bleiben, auch wenn Veränderung manchmal beängstigend ist.

Sibylle Schmidtchen. (Foto: Marco Einfeldt)

Schmidtchen: Ich möchte auch in keiner anderen Staatsform leben. Ich habe viele Länder besucht, auch welche mit anderen Regierungsformen, und mich schaudert, was heute durch bestimmte politische und technische Mittel möglich ist an Überwachung. Aber man muss sich überlegen, dass andere Menschen vielleicht anders sozialisiert worden sind und dadurch, dass sie zum Beispiel in China diesen Wohlstand aufgrund der Diktatur erreicht haben, nichts anderes vermissen.

Es gibt einen interessanten Versuch, der in den letzten Jahren in Marburg durchgeführt wurde und der gezeigt hat, dass man durchaus versuchen könnte, die repräsentative Demokratie in Deutschland zu erweitern, um wieder Schichten mit einzubeziehen in demokratische Prozesse, die sich eigentlich ausgeschlossen fühlen. Denn das macht sich ja bemerkbar - nicht nur bei der Wahlbeteiligung, sondern auch in der Art, wie sie sich heute in den öffentlichen Medien darstellen, weil sie auch gerne bemerkt und gehört werden wollen.

Böhme: Demokratie sollte insgesamt leicht verständlich sein. Denn wenn man Demokratie verständlicher macht, weil man zum Beispiel einen Alltagsbezug herstellt, dann müsste man doch besser mitwirken können. Auch die, die sich vorher nicht getraut haben, weil sie aus ferneren Bildungsschichten kommen oder die Sprache nicht so gut beherrschen. Zum Beispiel bei politischen Reden, die sollten zusätzlich in einfacher Sprache verfasst werden, damit der komplizierte Politikersprech nicht abschreckt. Wenn man aber besser nachlesen kann, was die Leute fordern, kann man sich dann nicht trotz der Hürden besser einbringen? Gerade wenn ich mir das KanzlerInnen-Triell anschaue. Da wird manchmal so um den heißen Brei herumgeredet. Wenn man da nicht durchsteigt und die Kernaussagen mitbekommt, verstehe ich, dass viele Leute das langweilig finden, obwohl vielleicht etwas angesprochen wurde, was sie hören wollen.

Und es ist unglaublich wichtig, schon früh verständlicher zu machen, wie das System funktioniert und wie sie da mitwirken können. Zum Beispiel wenn man Mädels erzählt, dass es eine politische Entscheidung war, dass Damenhygieneartikel weniger kosten als zuvor. Dann sind sie meistens überrascht. Genauso mit den Autos: Wenn man erzählt, dass es eine politische Entscheidung ist, wie viel das Benzin kostet. Dann entstehen Aha-Momente, die man braucht, um Interesse zu entwickeln.

(Foto: Marco Einfeldt)

Schmidtchen: Was Sie sagen, stellt ganz große Ansprüche an die Schulen...

Böhme: Nicht nur an die Schulen! Sondern an alle, die Politik leben, Kommunal- und Weltpolitiker, und alle, die mit Kindern arbeiten. Wir bei den Pfadfindern machen das auch. Ich sehe da die Verantwortung auch bei den Organisationen.

Schmidtchen: Das ist ja auch ein großes Grundrecht der Demokratie: Das Vereinsrecht, die Möglichkeit, über Vereine demokratische Strukturen zu entwickeln und vorzuleben. Deswegen wird das Vereinsleben ja so gefördert von den Gemeinden. Ich habe das auch im Klassenzimmer versucht, weil ich immer die siebte bis neunte Klasse unterrichtet habe und ihnen von vornherein nicht nur demokratische Gesetze beibringen, sondern das Ganze mit Leben füllen wollte. Ich habe damals versucht, mit den Klassen ins Rathaus zu gehen, Schülerparlamente zu gründen, aber diese Versuche wurden irgendwo immer abgebrochen. Manchmal auch deswegen, weil Jugendliche in der Pubertät das Interesse verlieren, außer man hat davor schon Grundsteine gelegt, sodass sie von Anfang an anders orientiert sind.

Stellt diese jederzeit für alle zugängliche Informationsflut die jungen Leute heute nicht vor ähnliche Herausforderungen, Demokratie weiterzuentwickeln, wie in der Jugend von Frau Schmidtchen? Gibt es gerade vielleicht eine ähnliche Chance, dieses Gerüst der Demokratie neu auszufüllen und weiter zu denken?

Böhme: Diese Informationsflut kann sehr gefährlich sein. Gerade während der Corona-Zeit hat man gemerkt, dass viele Leute nur Überschriften oder Fake News gelesen haben und dann große Panik ausgebrochen ist, vor allem bei den Impfstoffen. Ich profitiere schon davon, dass Informationen immer und überall verfügbar sind, aber es ist ein schwieriger Grat zwischen Nutzen und Gefahr. Denn auf der anderen Seite hält es die Chance bereit, durch soziale Medien in seinem Engagement bestärkt zu werden. Zum Beispiel, indem man Nachrichten liest und Fotos gezeigt bekommt von Leuten, die sich ebenfalls engagieren. Wenn man sieht, wie groß die Community ist, dann pusht das einen schon enorm. Denn man merkt, da gibt es jemanden, der genauso denkt wie ich.

Schmidtchen: Es gab ja früher nie diese Kanäle, über die sich Menschen sammeln und an einem Ort verabreden konnten! Das sind die Chancen. Aber die große Gefahr ist und das sehen wir bei den Querdenkern, dass so eine Blase entsteht, in der sie sich wohlfühlen und wo sie das Gefühl haben, sie werden ständig bestätigt. Bei den Demonstrationen kommen immer mehr unterschiedliche Ideologien zusammen, bis hin zu den Rechtsradikalen, die sich untermischen. Das Problem ist, dass sie eine Art von Konversation, wenn man das überhaupt so nennen will, gefunden haben, die sich auf Hass und Kontroverse der fiesesten Art reduziert. Das ist für mich Horror, der Gedanke, dass ich so auf meinem Gedankengut beharre, dass es nicht mehr zum Kompromiss kommen kann, obwohl das der Wunsch der Demokratie ist.

Hat sich das Selbstverständnis von Frauen in der Politik geändert, wenn Sie an den Beginn Ihrer politischen Karriere denken, Frau Schmidtchen?

Schmidtchen: Als ich anfing, mich politisch zu engagieren, hatte es mein Mann, der in den alten Strukturen aufgewachsen ist, schwer, wenn ich sagte, ich will mich engagieren und bin häufig nicht da, nehme an Seminaren teil. Das ging nur, sofern seine Karriere nicht darunter litt. Die Konflikte sind damals noch viel größer gewesen, als das Selbstverständnis noch nicht da war. Aber abgesehen davon hatte ich nicht das Gefühl, dass ich deswegen Probleme hatte. Und bei uns in der SPD hatten wir lange Zeit fünf Fraktionsmitglieder, wobei vier Sitze mit Frauen besetzt waren. Wobei das eine Ausnahme war.

(Foto: Marco Einfeldt)

Provokant gefragt: Ist Ihr größeres Handicap Ihr Alter oder Ihr Geschlecht, Frau Böhme?

Böhme: Manchmal kommt es ein bisschen zusammen. Bei mir in der Fraktion und im Verein fühle ich mich sehr ernst genommen, obwohl der Altersunterschied sehr groß ist. Bei vielen politischen Diskussionen wird man anfangs manchmal schon in eine Ecke gestellt, aber das wird dann während des Gespräches meistens besser, wenn ich sie merken, dass ich durchaus etwas zu sagen habe. Und dann kann ich sie auch ein Stück weit von meiner Position überzeugen. Aber ich bin sehr froh, dass ich nicht in Ihrer Zeit aufwachsen musste, Frau Schmidtchen, obwohl dort viele Fortschritte in Sachen Frauenrechte gemacht wurden.

Stichwort Klima- und Rentenpolitik: Mit welchen Gefühlen blicken Sie auf die Arbeit ihrer älteren Politik-KollegInnen?

Böhme: Grundsätzlich habe ich großen Respekt und Achtung vor der Arbeit all meiner demokratischen Politik-KollegInnen. Bei der Klimapolitik der Bundesregierung jedoch bin ich mit vielem nicht zufrieden. Wenn ich eine Sache entscheiden dürfte, dann würde ich beispielsweise Kurzstreckenflüge verbieten. Oft habe ich das Gefühl, dass PolitikerInnen diese radikaleren Einschränkungen nicht umsetzen, weil sie Angst haben, ihre WählerInnen zu verlieren. Ich will lieber versuchen, authentisch zu bleiben und keine Versprechungen zu machen, sondern das, was mir am Herzen liegt, für die Gemeinschaft umzusetzen. Und wenn ich nicht gewählt werde, dann ist das eben so. Dann habe ich wenigstens niemandem das Blaue vom Himmel versprochen.

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Gibt es etwas, Frau Schmidtchen, das Sie der jüngeren Politik-Generation mit auf den Weg geben wollen?

Schmidtchen: Was ich mit Sorge betrachte, sind die vielen Informationen, die so freizügig ins Internet gestellt werden und dann auf einem Server in Amerika landen. Meistens passiert da nichts, aber wenn man ins Visier eines unangenehmen Zeitgenossen gerät, kann der einem aufgrund der Daten, die es im Internet gibt, schaden. Ich befürchte, dass uns diese Errungenschaften unserer digitalen Zeit irgendwann überrennen werden und dass wir uns ganz subtil immer mehr dem chinesischen Modell annähern und unsere Freiheiten aufgeben. Im wirtschaftlichen Bereich lassen wir die Chinesen schon zu stark eingreifen. Es gibt Anzeichen, dass Firmen, die mehr als 40 Prozent ihres Kapitals von den Chinesen beziehen, auch schon mit den Überwachungssystemen anfangen.

Außerdem werden immer mehr Gesetze unter dem Sicherheitsaspekt geändert. Bei den Älteren, die bei den Wahlen viel mehr ins Gewicht fallen, ist das noch viel ausgeprägter als bei den Jungen. Von den 60 Millionen Wahlberechtigten in Deutschland stehen 22 Millionen über 60-Jährige knapp neun Millionen unter 30 Jährigen gegenüber. Und so wird seit drei Wahlperioden eigentlich nur eine Politik für Senioren gemacht.

Die kommunale Politik ist ja die unterste und direkteste Ebene der Demokratie. Wo würden Sie sagen, hat Ihre Arbeit im Gemeinderat besonders Früchte getragen, Frau Schmidtchen?

(Foto: Marco Einfeldt)

Schmidtchen: Vor allem die Offenheit und das Gespür dafür, dass in einem Gremium, in dem nur noch Akademiker sitzen, der Blick auf eine andere Schicht in der Bevölkerung wichtig ist. Man muss diese Schicht mit anderen Mitteln, mit einer unterhaltsameren Art und Weise dazu bekommen, dass sie stehen bleibt und mitmacht. Ich habe versucht, von diesen langweiligen Ständen wegzukommen und Wahlkampf lustiger zu machen. Wir haben Flash-Mobs eingeführt, Blumenpflanzaktionen oder mit einem Bollerwagen und Schnäpschen rum zu ziehen. Wichtig ist auch, wie man mit den Leuten redet. Sie müssen sich ernst genommen fühlen, auch wenn man nichts versprechen kann. Aber man kann deren persönliche Anliegen zumindest in der Fraktion diskutieren.

Und: Ich habe sicherlich den Kulturgedanken vorangetrieben. Ich habe sehr intensiv bei der Musikschule mitgearbeitet, um die finanziellen Einschränkungen mit Hilfe des Fördervereins zu mindern und versucht, den gesellschaftlichen Blick darauf zu richten, dass hier Gelder benötigt werden. Bei der weiteren Planung des Bürgerplatzes mische ich durch das Kulturforum mit. Sicherlich auch durch die Schülerfirma, wo wir versucht haben, ein Bewusstsein für Verbraucherverhalten zu schaffen.

Das klingt für Sie, Frau Böhme, eher nach Zukunftsmusik. Wenn Sie das so hören, empfinden Sie Frau Schmidtchen als Vorbild oder sagen Sie, das ist zwar toll, aber für meine Zeit nicht mehr relevant?

Böhme: Ich kann zwar noch nicht auf viel zurückblicken, aber dafür bringe ich ganz viele Ideen mit. Vorbildfunktion hat Frau Schmidtchen für mich, weil sie so engagiert ist. Wann trifft man heute noch Menschen, die so für eine Sache brennen und den Impuls zu haben, etwas bewirken und verändern zu wollen. Ich hoffe, das kann ich mir auch über viele Jahre erhalten. Als ich auf der Fachakademie war, da habe ich zumindest bewirkt, dass alle wussten, dass ein Zigarettenstummel vierzig Liter Trinkwasser verseucht.

Wie empfinden Sie im Gemeinderat oder im Stadtrat das Verhältnis zur Bundespolitik? Ist es etwas, wodurch Sie sich gegängelt fühlen durch viele Vorschriften oder haben Sie da viel Spielraum?

Schmidtchen: Ich habe mich all die Jahre wenig gegängelt gefühlt. Klar, die Vorgaben im Wahlkampf, die Wahlkampfstände, die haben mich genervt, aber da haben wir uns dann andere Aktionen überlegt.

Das heißt, Kommunalpolitik funktioniert zum größten Teil unabhängig von der Bundespolitik?

Böhme: Da ich einen kommunalen Verein vertrete, würde ich sagen, ja. Für uns funktioniert das gut, wir haben gerade eine entspannte Zeit, während alle anderen Wahlkampf machen müssen. Aber ich finde es manchmal schwierig, wenn von oben Entscheidungen kommen, die wir Kommunen umsetzen müssen, die uns den schwarzen Peter zuschieben. Da wird uns ein Zeitfenster gegeben und dann muss es fertig sein. Da frage ich mich, wie soll das gehen? Zum Beispiel bei der neuen Abstandsflächenregelung, mit der sich einiges ändert und unser Zeitraum, zu reagieren, sehr knapp war.

S ie haben sich gegen eine der großen Volksparteien entschieden und gegen die Grünen. Liegt das daran, dass Sie das Parteiensystem unserer Demokratie stört oder ist das eine rein auf Freising bezogene Entscheidung gewesen?

Böhme: Die Freisinger Mitte hat mich aktiv gefragt. Am Ende hat mich überzeugt, dass sie eben politisch ist, aber auch den Verein dabei hat, durch den Leute einfach was für Freising bewegen wollen. Sie haben mir von Anfang an großes Vertrauen entgegengebracht. Das war ein schönes Gefühl, obwohl ich mich natürlich trotzdem beweisen wollte. Und wenn ich im Verein mal auf Meinungen stoße, die ich anders sehe, finde ich das Engagement für Freising trotzdem gut.

Schmidtchen: Das macht es übrigens auch spannend, dass auch innerhalb der Koalition nicht immer alle einer Meinung sind. Ich finde es wichtig, dass man sich da noch unterscheidet, auch wenn man einer Partei angehört.

Also geht es wieder um Meinungsaustausch und Kompromisse, bei denen strikte Parteirichtlinien eher hinderlich sind. Aber wäre dann, rein theoretisch, eine Demokratie besser ohne Parteien?

Schmidtchen: Nein, denn das Parteienprinzip ist eins unserer Grundprinzipien.

Böhme: Ich glaube, dass sich die Leute nicht nur wegen der Prinzipien engagieren, sondern auch wegen des Zugehörigkeitsgefühls, das in Parteien und Vereinen entsteht. Wenn das fehlt, wird ein großer Teil der Leute, die sich engagieren, wegbrechen.

Schmidtchen: Wenn wir keine Parteien mehr hätten, dann würden wir viel schneller abdriften in ein demagogisches System. Es gibt einfach Grundlagen, die da sein müssen, sonst wäre ja gar nicht gewährleistet, dass sich Gruppierungen mit großen gemeinsamen Zielen zusammentun. Die Unterschiede zwischen den Parteien waren früher extremer, wir hatten ja lange auch nur drei in den 50er und 60er Jahren. Ideologien waren viel stärker konzentriert: Es gab die Konservativen, die stark kirchlich Geprägten, die links Orientierten und die, die nicht starr an ein System gebunden waren. Die Annäherung zwischen den Parteien hat sich in der modernen Politik abgespielt. Eine Frau Merkel hat es geschafft, sich viele sozialpolitische Themen zu eigen zu machen. Dadurch gibt es immer weniger Dispute und Abgrenzungen zwischen den beiden großen Volksparteien, die ja keine mehr zu sein scheinen, so viele Wähler wie sie verloren haben.

Wir haben schon über politische Bildung gesprochen, die für die jüngeren Generationen wichtig ist, weil Demokratie zu einer Selbstverständlichkeit geworden ist. Wie wichtig ist politische Bildung angesichts der sich abzeichnenden Gefahren - nicht nur durch die Politik, sondern auch durch externe Veranstaltungen, wie zum Beispiel die Lange Nacht der Demokratie, die das Kreisbildungswerk organisiert?

Böhme: Unglaublich wichtig. Auch, dass sie von außen kommt, denn von den Parteien kommend, ist es ja immer ein bisschen gefärbt. Und ich finde, wir sollten früher damit anfangen, nicht nur traditionell durch Sozialkundeunterricht, sondern durch Aktionen, die die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen mehr mit Politik und Demokratie verknüpfen.

Schmidtchen: Das muss in der Kita anfangen: Da lernen Kinder ganz einfache Formen des "Wir" und was es bedeutet, dass nicht nur ich da bin und welche Regeln es gibt, denen ich mich unterordnen muss. In der Schule wird dieses Regelsystem ergänzt durch die Regeln des Herrschaftssystems. Es ist wichtig, Kindern klarzumachen, Pressefreiheit und Versammlungsfreiheit, das ist nicht Gott gegeben.

© SZ vom 04.09.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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