Freiham/Neuperlach:Zusammen stärker

Schüler an sonderpädagogischen Förderzentren bekommen Unterstützung von Ehrenamtlichen, die sich individuell um sie kümmern. Ende Juli läuft die Pilotphase aus. Ob es weitergeht, ist offen

Von Ellen Draxel, Freiham/Neuperlach

Sascho kramt im Elektrotechnik-Baukasten. Gemeinsam mit Dieter Ohlenhard hat der Elfjährige schon "ein Teil mit Licht und Hupe, das richtig laut gepiepst hat", zum Laufen gebracht. Jetzt soll sich noch ein Minipropeller drehen. Die beiden probieren verschiedenes aus, mit Erfolg: Das Windrad nimmt Fahrt auf. "Sascho kann das super", lobt Manager Ohlenhard. "Elektronik ist toll", erwidert der Junge. "Sonst spiele ich Computerspiele, aber das hier macht echt Spaß."

Ein paar Tische weiter zählt der zehnjährige Arbi laut Ein-Euro-Spielgeldscheine. "Ich gewinne", strahlt er seinen Mitspieler Lars Schepp an. Arbi hat sich an diesem Mittwochnachmittag Monopoly gewünscht und genießt die Unterhaltung mit dem Unternehmensberater sichtlich.

Sascho und Arbi besuchen das Sonderpädagogische Förderzentrum München-West. Wie alle Schüler und Schülerinnen hatten auch sie lange Distanzunterricht, mussten versuchen, den Stoff online zu lernen, ohne persönlichen Kontakt, ohne die sonstigen Fördermodule. Inzwischen bekommen sie zwei Stunden pro Woche Unterstützung von Ehrenamtlichen, die sich nur um sie kümmern - dank eines Pilotprojekts unter dem Motto #zusammenstaerker, das das Sozialreferat initiiert hat und nun finanziert.

Sonderpädagogisches Förderzentrum

Gemeinsames Wühlen im Elektronik-Baukasten: Sascha und Dieter Ohlenhard arbeiten und spielen einmal die Woche zwei Stunden miteinander.

(Foto: Catherina Hess)

"Claudia von Stransky vom Stadtjugendamt kam auf uns zu und bat um Mithilfe", sagt Anna Schwab von den Freiwilligen-Zentren der Caritas. Schwab und ihre Kollegen sollten Ehrenamtliche finden, die sich mit Geduld und Einfühlungsvermögen auf junge Menschen einlassen, die mit ihnen lernen, aber auch spielen, sporteln und kreativ sind. Um in Kooperation mit den Bildungslokalen Neuaubing-Westkreuz und Neuperlach sowie Regsam Schülern der Sonderpädagogischen Förderzentren München-West und Süd-Ost individuelle Hilfe anbieten zu können.

Denn die Pandemie, das hatte sich mittlerweile gezeigt, verlangt Kindern und Jugendlichen enorm viel ab. Bei vielen Schülern sind im Lockdown Bildungslücken entstanden, sie drohen, den Anschluss zu verlieren. "Und bei uns an der Schule klafft diese Schere noch mal mehr auseinander", sagt Susanne Leogrande. "Wir haben Kinder, die Sprachstörungen haben", erklärt die Schulleiterin des Förderzentrums West - "und da stößt du im Online-Unterricht einfach an deine Grenzen." Ebenso wie bei vielen anderen Aktivitäten, die die Lehrer in Nicht-Corona-Zeiten mit großem Engagement täglich mit den Schülern machen, und die wichtig sind, um die jungen Leute zu fordern, zu fördern und bei der Stange zu halten - wie Selbstmassagen oder Bewegungsspiele zwischendurch.

Sonderpädagogisches Förderzentrum

Bei dem Pilotprojekt kooperieren das Sozialreferat, die Freiwilligen-Zentren der Caritas und die Bildungslokale Neuaubing-Westkreuz und Neuperlach sowie Regsam.

(Foto: Catherina Hess)

Dass zusätzlich jeder Schüler und jede Schülerin einen individuellen Förderplan hat, der halbjährlich angepasst wird, macht die Sache nicht einfacher. Und wenn die Kinder dann noch in engsten Wohnverhältnissen leben, mit ihren Eltern und zum Teil zehn oder mehr Geschwistern, die im Lockdown alle daheim saßen, ist Bildung kaum mehr zu leisten. "Wir hatten Kinder in der Notgruppe hier, die kamen im Schlafanzug, weil sie sonst nur den ganzen Tag im Bett lagen, und sagten, sie wollen nicht mehr nach Hause", erzählt Leogrande.

Diese Kinder und Jugendlichen nun wieder neu zu motivieren, ihnen Selbstvertrauen zu geben und Wertschätzung entgegenzubringen, das ist das Ziel des Pilotprojekts. Insgesamt 27 Schülerinnen und Schüler profitieren derzeit in beiden Schulen von der Eins-zu-eins-Betreuung. Freiwillige zu finden - Senioren, Studenten, aber auch Vollzeitbeschäftigte -, sei kein Problem gewesen, sagt Koordinatorin Anna Schwab. "Wir mussten sogar einen Stopp einlegen, weil sich tatsächlich mehr Leute gefunden haben, als wir brauchen."

Sonderpädagogisches Förderzentrum

Hier findet ein Bildungsprojekt für durch Corona besonders geschädigte Schüler statt.

(Foto: Catherina Hess)

Im Westen finden die Stunden im Bildungscampus Freiham statt, in Neuperlach stellt das Mercure Hotel dafür flexibel nutzbare Tagungs- und Veranstaltungsräume "gegen eine geringe Vergütung, die die Reinigung und Desinfektion deckt", zur Verfügung, wie Manager Stephan Seubert erklärt. Das Unternehmen macht mit, weil es den jungen Menschen "den bestmöglichen Start in ihr Berufsleben ermöglichen" will. "Gerade in diesen Zeiten", findet der Hotel-Chef, sei Förderung "wichtig".

In der ersten gemeinsamen Stunde pro Woche von 14 bis 15 Uhr werden bei dem Projekt immer Hausaufgaben gemacht und gelernt, Lars Schepp beispielsweise liest dann gerne abwechselnd mit Arbi aus einem Buch seines neunjährigen Neffen. Denn er hat gemerkt, dass der Junge "jemand ist, der viel mehr erzählen will, als er kann - weil ihm die Worte fehlen". Die ungeteilte Aufmerksamkeit in diesen Minuten tut dem Drittklässler gut. "Die Zeit ist das größte Geschenk", weiß Schulleiterin Leogrande, "dieses Eingehen auf das Tempo der Kinder."

Um 15 Uhr folgt eine viertelstündige Bewegungspause, in der Regel draußen. "Sascho hat in dieser Zeit schon mal mit viel Enthusiasmus alle Helfer mit Fahrzeugen durch den Hof gefahren", erinnert sich Schwabs Caritas-Kollegin Claudia Wings, die die Teams sozialpädagogisch begleitet. Bei dem Projekt geht es auch um Teamgeist und Arbeiten auf Augenhöhe.

Die letzten 45 Minuten bis 16 Uhr können sich die Schüler aussuchen, was sie gerne machen möchten. In einem kleinen Container finden sich die unterschiedlichsten Spiele, Baukästen und Bastelmaterialien wie Fimo oder Perlen. "Ein Kind hat mal gesagt, ,das ist ja wie Weihnachten'", sagt Wings. Elektrotechnik-Baukasten und Monopoly entstammen auch dieser Kiste.

Für Sonderschulrektorin Susanne Leogrande ist das #zusammenstaerker-Projekt "ein Segen". Sie hofft wie alle Beteiligten, dass das Modell aus finanziellen Gründen nicht mit der Pilotphase Ende Juli endet, sondern verlängert wird. "Denn wir brauchen noch mindestens ein Jahr, um diese pandemiebedingten Schäden abzumildern und die Kinder wieder ins Gleis zu kriegen."

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