Na, geht doch! Während wenige Hundert Meter entfernt zwei denkmalgeschützte Hallen seit Jahren auf ihre Nutzbarmachung für die Kulturszene warten, werden in der Dachauer Straße 110d kurzerhand Nägel mit Köpfen gemacht. Im Parterre residiert unter dieser Adresse seit jeher das Pathos Theater, während eine Etage darüber ein Möglichkeitsraum im Dornröschenschlaf lag. Rund 600 Quadratmeter, bislang vom Gesundheitsreferat als Archiv genutzt, werden gerade ohne merkliches Tamtam an die Freie Bühne München (FBM) übergeben.
Renoviert ist noch nichts, und doch führt Angelica Fell stolz durch ihr künftiges Domizil, in dem neben einem riesigen, von Fenstern gesäumten Haupt-Proberaum etliche kleinere fürs Szenenstudium, als Büro, Teeküche, Besprechungs-, Medien- und Rückzugs-Räume genutzt werden sollen. Kein Luxus, denn die FBM ist ein inklusives Ensemble und bildet Schauspieler mit diversen körperlichen und kognitiven Beeinträchtigungen und besonderen Bedürfnissen aus. Zum Beispiel nach persönlicher Ansprache, einer festen Tagesstruktur, Privatsphäre und Ruhe.
Fünf Schüler wurden zur Bühnenreife gebracht, vier gehören jetzt dem Ensemble der Kammerspiele an
"Im Oktober werden wir einen Schüler mit Autismus-Spektrum-Störung dazubekommen", sagt Fell. Und dass der andere Dinge braucht als eine Kollegin, die im Rollstuhl sitzt, weiß die Mutter eines theaterbegeisterten Sohnes mit Down-Syndrom, die 2013 mit Gleichgesinnten den gemeinnützigen Verein Freie Bühne München/FBM e.V. gegründet hat. Seit 2015 sind etliche Eigenproduktionen entstanden und fünf Schüler wurden zur Bühnenreife gebracht, von denen seit der Spielzeit 20/21 vier dem Ensemble der Münchner Kammerspiele angehören.
Die einzigartige Kooperation - das "Münchner Modell" - wird inzwischen von der Kulturstiftung des Bundes gefördert. Und auch die FBM selbst ist mittlerweile von der Stadt als Institution anerkannt und bekommt 120 000 Euro im Jahr. Und seit das Thema Inklusion auch beim Film angekommen ist, kann die FBM ihre Schützlinge kaum noch für eigene Produktionen casten. Eine Erfolgsgeschichte - die beinahe jäh zum Erliegen gekommen wäre, als das immer wieder verlängerte räumliche Provisorium im Neuhausener Kult 9 endgültig auslief.
Die Suche nach neuen Räumen endete immer spätestens dann, "wenn wir gesagt haben, was wir brauchen", so Fell. Und auch die Archivräume wurden erst zur Option, als Kulturreferent Anton Biebl gesagt hat, er wolle Menschen statt Papier in ihnen sehen, erzählt Marcus Streck vom Kulturreferat, der als eine Art guter Geist des Hauses gerade mit den Schauspielern Dennis Fell-Hernandez und Frangiskos Kakoulakis Kleiderständer im Proberaum aufgebaut hat. Die Angelegenheit wurde zur Chefsache, das Kommunalreferat zog mit, ebenso Abgeordnete mehrerer Rathausparteien. Und dann kann schnelle unbürokratische Hilfe schon mal klappen.
Dass die Lokalbaukommission einem Antrag auf Nutzungsänderung prompter nachkommt, wenn das Kulturreferat Priorität anmeldet, ist das eine. Aber auch eine marktübliche Miete hätte dem Vorhaben das Genick gebrochen. Um die 103 000 Euro pro Jahr hätte die Münchner Gewerbehof- und Technologiezentrums GmbH (MGH) als Eigentümer der Räume verlangt. Nun sind sie als städtische Kulturförderflächen deklariert und können mietfrei genutzt werden. "Das hat uns", sagt Streck, "einige Kurven gekostet."
Bis 1. Oktober sollen die Räume bezogen werden
Dafür geht es in der Mission "ein Dach über dem Kopf und ein Boden unter den Füßen" (Streck) bemerkenswert pragmatisch geradeaus. Statik? Check! Brandschutz? Check! Gesundheitsgefährdende Substanzen in Wänden und Rohren? Check und Gegencheck! Der Rest darf wachsen. "Kein Luxus, aber ein Anfang" lautet die Devise - "und eine Perspektive".
Bis zum 1. Oktober sollen die Räume bezogen werden, am 15. steht mit "Romeo und Julia" die erste Premiere an. Die aber wird wie bislang anderswo stattfinden, denn ein Theater mit Publikumsverkehr wird das erste richtige Zuhause der Freien Bühne München nicht. Um das genehmigt zu bekommen, hätte man noch einmal an ganz anderen Stellschrauben drehen müssen, bestätigt Streck, während sich Angelica Fell darauf freut, mehr Schüler und potenzielle Partner in die "inspirierenden Räumlichkeiten" mitten im Kreativquartier einladen zu können und "nach und nach auszutesten, was wir für die inklusive künstlerische Arbeit brauchen" - als eine Art Labor auch für die Kammerspiele und alle anderen, die sich auf dieses offene Feld wagen wollen.