Süddeutsche Zeitung

Frauennotruf auf dem Oktoberfest:Schutz statt Scham

Der Streit mit dem Partner eskaliert oder die Handtasche ist plötzlich weg: Der Security Point ist die Anlaufstelle für Wiesn-Besucherinnen, die in Not geraten. 156 Frauen wurden im vergangenen Jahr betreut - doch viel mehr bräuchten auf dem Oktoberfest Hilfe.

Von Sabine Buchwald

Das Oktoberfest hat seine hässlichen Seiten. Alexandra Stigger kennt sie gut und sagt dennoch: "Ich finde, die Wiesn ist ein schönes Fest." Alexandra Stigger ist 29 Jahre alt und als gebürtige Münchnerin mit Wiesn-Besuchen groß geworden. Jetzt arbeitet sie dort. Nicht mittendrin, etwa in einem Bierzelt, sondern im Servicezentrum schräg unterhalb der Bavaria, das wie ein verrosteter Container aussieht. Dort sind der TÜV, das Rote Kreuz und das Fundbüro untergebracht - und dort ist während des Oktoberfestes die Anlaufstelle für Wiesn-Besucherinnen, die in Not geraten. "Es ist eine Oase der Ruhe", sagt Stigger.

"Security Point" heißt diese Oase im Untergeschoss des Verwaltungsbaus auf Neudeutsch. Der Name soll wohl Touristinnen aus dem Ausland ansprechen, die von den Münchner Frauen-Beratungsstellen Amyna, Imma und dem Frauennotruf nichts wissen können. Diese drei Institutionen haben 2003 die Anlaufstelle auf dem Oktoberfest initiiert. Die Finanzierung kommt von der Stadt München und immer mehr Sponsoren. Angefangen haben sie in einem Wohnwagen. Damals aber gehörte Stigger noch nicht zum Team des Frauennotrufs. Sie ist erst seit 2012 dabei als Sozialpädagogin mit traumatherapeutischer Ausbildung - seit vergangenem Jahr koordiniert sie die Mitarbeiterinnen des Security Points und ist dessen Sprecherin.

Frauen suchen Hilfe

Man kann sie sich gut in einem Dirndl vorstellen. Ihr langes Haar trägt sie oft mit einem eingeflochtenen Zopf hochgesteckt, eine Frisur, die sich andere Frauen zur Tracht machen. Stigger mag Dirndl, aber nicht für die Arbeit. Da hat sie wie ihre Kolleginnen Hosen und eine einheitliche Weste an. Stigger macht die Einsatzpläne für die fünf ausgebildeten Sozialpädagoginnen und die 45 ehrenamtlich unterstützenden Frauen, einige von ihnen sind junge Frauen, die Soziale Arbeit studieren.

Immer eine Fachfrau und fünf bis acht Helferinnen arbeiten in einem Team. An Freitagen und Samstagen sind es mehr als an den übrigen Wochentagen. Die Bierzelte sind voll, das Bier fließt, es gibt mehr Fälle: Das kann eine Eskalation zwischen einem Paar sein, die für die Frau unschön endet; das kann eine Art Nervenzusammenbruch sein, weil der Trubel auf der Wiesn einfach überfordert; wer seine Handtasche verloren hat und mittellos dasteht, bekommt ebenso Hilfe am Service Point.

2013 betreuten sie 156 Mädchen und Frauen. Eine Zahl, die nicht besonders üppig klingt in Anbetracht von 6,4 Millionen Besuchern. Stigger vermutet, dass viel mehr Frauen Hilfe bräuchten, aber nicht wüssten, dass es Hilfe gebe. Die Dunkelziffer, so schätzt sie, sei enorm hoch. Ebenso die Scham, überhaupt Hilfe zu suchen. Einmal, erzählt sie, seien fünf Frauen gleichzeitig da gewesen, die bitterlich weinten, weil ihnen ihre Situation so peinlich war.

"Eigenschutzfähigkeit eingeschränkt"

Wenn das Bier besser schmeckt, als es vertragen wird, vielleicht das Geld im Gewühl verloren und der Akku des Handys aus geht, kann leicht Panik aufkommen. Da passiert es, dass man sich plötzlich sehr allein in der Menschenmasse fühlt. Auch mancher Mann könnte Hilfe gebrauchen. "Aber bei Männern ist die Schamgrenze noch viel, viel höher", sagt Stigger. Vor allem Gäste aus dem Ausland, die womöglich ihre Gruppe nicht mehr finden oder nicht zu ihr zurück ins überfüllte Bierzelt dürfen. Stigger weiß, dass viele Gäste das Oktoberfest unterschätzen, vor allem, wenn sie es zum ersten Mal besuchen. "Typische Klientinnen bei uns sind Touristinnen, die noch nicht mal ein Hotelzimmer in München gebucht haben." In so einer Situation seien sie in ihrer "Eigenschutzfähigkeit eingeschränkt". Das ist Sozialpädagoginnen-Sprache. Man könnte auch sagen: Manche dieser Frauen werden in so einer Lage leichte Beute.

"Selber schuld", das denken Stigger und ihre Mitarbeiterinnen nicht. "Wir sind der Meinung, dass eine Frau nackert über die Wiesn gehen können muss, und es darf ihr nix passieren." Nackt auf dem Oktoberfest? Eine komische Vorstellung. Besonders wenn man weiß, wie hemmungslos die Stimmung etwa an einem Samstagabend werden kann - aufgeheizt durch Licht, Lärm und Alkohol. Nicht nur in den Bierzelten. Stigger ist sehr ernst, als sie erwidert: "Die Verantwortung für irgendwelche Taten haben die anderen."

Vier Frauen, die im vergangenen Jahr zum Security Point kamen, hatten massive sexuelle Übergriffe erlebt. Ein Vergewaltigungsopfer, eine Frau aus dem Ausland, begleitete Stigger ins Krankenhaus und blieb an ihrer Seite, bis morgens sichergestellt war, dass sie zu ihrer Familie nach Hause fliegen konnte. Überhaupt Sicherheit. In den Räumen des Security Points soll bei den Frauen zu allererst ein "Gefühl von Sicherheit" aufkommen, sagt Stigger. Jedes Jahr werden sie für zwei Wochen mit Sesseln und Pflanzen so gemütlich wie möglich eingerichtet. Es gibt frische Anziehsachen, gespendet von den Mitarbeiterinnen, und etwas zu essen. Manche Frauen schaffen es hier, schon bald wieder Kraft zu schöpfen. Manchmal reicht es dann, das Handy aufzuladen und mit einigermaßen klarem Kopf wieder Kontakt zu den Freunden aufzunehmen.

Auch die Sicherheit der Helferinnen hat Stigger im Blick. Prinzipiell sind sie immer nur zu zweit im Einsatz, etwa wenn sie im Dienstauto eine Frau nach Hause, in ihr Hotel oder auch zur Bahnhofsmission bringen, wenn sie keine andere Unterkunft hat. "Die nehmen immer auf", sagt Stigger. Diese Einzelbetreuung ist zeitintensiv, aber niemand wird sich selbst überlassen. Wenn mal nicht so viel zu tun ist, klappert so ein Duo die prekären Stellen auf dem Gelände ab.

Der richtige Beruf

Die Grashügel neben den Treppen der Bavaria, im Winter als Schlittenbahn beliebt, gehören dazu. Während der Wiesn versucht hier so mancher Mann, seinen Rausch auszuschlafen. Für müde Frauen ein eher zweifelhafter Ort. Stigger erzählt von einer US-Soldatin, die sie hier in prekärem Zustand vorgefunden hat. Sie war in Afghanistan im Einsatz und die Eindrücke des Volksfestes hatten bei ihr anscheinend Erinnerungen wachgerufen. Durch Fragen hat die Sozialpädagogin sie sanft in die Gegenwart zurück geholt, sie reorientiert, wie Stigger sagt.

Alexandra Stigger spricht schnell, wenn sie erzählt, in Krisensituationen aber werde sie ganz ruhig, sagt sie. Stigger mag ihre Arbeit, die sie bestätigt, den richtigen Berufsweg eingeschlagen zu haben. Sie hätte mit ihrem Abiturschnitt Medizin oder Psychologie studieren können. Und doch hat sie sich für Soziale Arbeit entschieden, weil ihr der gesellschaftspolitische Aspekt dabei wichtig sei. Neben ihrem Job hat sie eine Ausbildung zur Kinder- und Jugendtherapeutin begonnen. Bis zur Approbation wird es fünf bis sechs Jahre dauern.

Derweil kümmert sie sich um die Öffentlichkeitsarbeit für den Security Point und die Aktion "Sichere Wiesn". Dazu gehören die kostenlose Info-App "Wiesn Protect", die 2013 immerhin 19 000 Mal heruntergeladen wurde; die Flyer, Postkarten und Aufkleber, die in Hotels, Touristeninformationen und Trachtengeschäften ausliegen. Das Angebot wird jährlich bekannter und besser akzeptiert - auch bei Bedienungen und Ordnungsmännern, sagt Stigger. "Schämen muss sich wirklich niemand."

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Quelle:
SZ vom 04.09.2014/vewo
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