Frauenhaus München:Schmerz macht keine Unterschiede

Frauen mit Behinderung werden deutlich häufiger Opfer von häuslicher Gewalt. Darauf reagiert das Frauenhaus in München. Bis 2015 soll es barrierefrei sein. Das allein reicht jedoch nicht aus

Von Sabine Cygan

Hin und wieder hat er sie geschlagen, geschubst und zuletzt auch gewürgt. Doch es waren vor allem die psychischen Spielchen, mit denen er seine Frau Paula (Name geändert) misshandelte. Er sprach mit ihr im Flüsterton oder schrie sie an. Manchmal bewegte er nur die Lippen, tat so, als spräche er mit ihr, ohne ein Wort zu sagen. Für Paula eine Qual, denn die 50-Jährige ist schwerhörig. Eine Einschränkung, die ihr Ehemann, mit dem sie seit 25 Jahren verheiratet ist, ausnutzte, um sie zu demütigen.

"Er gab ihr die Schuld daran, dass sie ihn nicht verstanden hat und er Sätze immer wieder sagen oder schreien musste", erzählt Melanie Bräu von der Frauenhilfe München, zu der das Frauenhaus gehört. Frauen und Mädchen mit Behinderung wenden sich sehr selten an sie und ihre Mitarbeiterinnen. Doch das bedeutet nicht, dass sie nicht weniger häufig Gewalt und Missbrauch erleben. Im Gegenteil: Im Jahr 2013 veröffentlichte das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend eine repräsentative Studie über die "Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Behinderungen und Beeinträchtigungen in Deutschland".

Das Ergebnis: Frauen und Mädchen mit Behinderung werden zwei- bis dreimal häufiger Opfer von psychischer, physischer und sexueller Gewalt. Vor allem gehörlose und psychisch kranke Frauen sind überdurchschnittlich häufig betroffen: Von körperlicher und seelischer Gewalt berichteten 84 bis 90 Prozent dieser beiden Gruppen, im Bevölkerungsdurchschnitt sind es nur 45 Prozent. Sexuellen Missbrauch erlebten 43 Prozent der gehörlosen und 38 Prozent der psychisch kranken Frauen. Dieser Wert ist dreimal höher als bei der restlichen Bevölkerung.

Das Frauenhaus München liegt abgeschottet von Lärm an einem sicheren und daher geheimen Ort irgendwo im Grünen. Seine Bewohnerinnen sollen genau so leben dürfen: abgeschottet von Gewalt und Demütigung, von Angst und Schmerz. 45 Frauen können hier in kleinen Apartments mit ihren Kindern wohnen. Sie bleiben durchschnittlich drei Monate, nur zwölf Prozent kehrten im Jahr 2013 zurück in die gewaltgeprägte Vergangenheit. Die Frauen sollen im Frauenhaus weiterhin selbstbestimmt und eigenverantwortlich leben. Sie erhalten psychosoziale Beratung und organisatorische Hilfe. Zur Frauenhilfe gehört außerdem eine offene Beratungsstelle in der Winzererstraße und ein Rund-um-die-Uhr-Telefon, das Frauen in Not 24 Stunden eine Anlaufstelle bietet.

Für die Frauenhilfe war die Studie Anlass, zu handeln und sich auch um Frauen und Mädchen mit Behinderung zu kümmern. Ein erster entscheidender Schritt ist der Umbau zweier Räume für Rollstuhlfahrerinnen im Frauenhaus. Auch für gehörgeschädigte Frauen soll mit Hilfe technischer Geräte gesorgt werden, wie etwa mit einer Lichtklingel im Zimmer, die auf Besucher aufmerksam macht oder virtuellen Übersetzungsmöglichkeiten für die Verständigung mit den Beraterinnen. Denn auf einen Gebärdendolmetscher müsse man teilweise vier Monate warten. "Und die Zeit haben wir nicht", sagt Sozialpädagogin Melanie Schauer.

Die Entscheidung, von Januar 2015 an auch Frauen mit Behinderung aufzunehmen, hat weit mehr Maßnahmen zur Folge, als allein einen barrierefreien Zugang zu schaffen. Die Sozialpädagoginnen nehmen an fachlichen Weiterbildungen teil. Es wird nach Wegen gesucht, Frauen mit Behinderung gezielt anzusprechen, zum Beispiel durch Informationsmaterialien in einfacher Sprache. Vor allem aber will die Frauenhilfe Kooperationen mit Einrichtungen für Menschen mit Behinderung schließen. Eine erste gibt es bereits mit dem Bayerischen Landesverband für die Wohlfahrt Gehörgeschädigter. "Bisher gab es kaum einen fachlichen Austausch", sagt Leiterin Caroline Beekmann, "das muss sich in Zukunft ändern."

Für die Beratung von Frauen mit Behinderung ist sehr viel Fingerspitzengefühl notwendig. "Die extreme Vielfalt an Behinderungen ist sicherlich eine Herausforderung. Wir müssen die Beratung immer ganz individuell anpassen", sagt Schauer. Vor einiger Zeit wurde eine junge Frau mit einer Lernbehinderung von ihrem gesetzlichen Vormund in das Frauenhaus gebracht. Auch sie wurde von ihrem Partner misshandelt. "Es ging damals nur darum, ihren Schutz sicher zu stellen", sagt Schauer. Danach sei die Frau wieder zu ihrem Partner zurückgekehrt. "Wir müssen daher unsere Ziele neu ausrichten."

Die Verunsicherung der Frauen, die häuslicher Gewalt ausgesetzt sind, ist generell sehr groß. "Doch das Ausmaß der Abhängigkeit ist für viele Frauen mit Behinderung ein anderes", sagt Schauer. "Manche können nicht einfach weglaufen. Viele kennen auch nicht das Gefühl der eigenen Grenzen. Denn wehre ich mich wirklich gegen jemanden, der mich womöglich pflegt und auf die Toilette setzt?" Auch der Blick in die Zukunft sei entscheidend - und das nicht nur für Frauen mit Behinderung. "Es geht um die Frage, welche Perspektive haben sie nach dem Frauenhaus?"

Die Sozialpädagogin Bräu erkannte erst bei ihrem dritten Treffen, dass Paula gehörgeschädigt ist. "Sie sprach immer sehr bedächtig und langsam und versuchte beim Sprechen keine Fehler zu machen." Für Paula spielte die eigene Einschränkung keine Rolle, weil sie damit aufgewachsen war. Für ihren Mann bot sie jedoch eine zusätzliche Möglichkeit der Demütigung.

Paula suchte erst Hilfe, als ihre Tochter plötzlich Angst hatte, zur Schule zu gehen. Typisch für Frauen, die häuslicher Gewalt ausgesetzt sind: Erst wenn die Kinder sichtbar unter der Situation leiden oder gar selbst Opfer von Misshandlung werden, wird ihnen bewusst, dass es an der Zeit ist, zu handeln. Heute nimmt sie regelmäßig an einem Kurs der Frauenhilfe teil. Sie lebt momentan zwar noch bei ihrem Mann, aber es laufe auf eine Scheidung hinaus, sagt Bräu.

Die Frau stammt übrigens eher aus besseren Verhältnissen - entgegen jeglichen Klischees über Frauen mit Gewaltbetroffenheit. Ob sie hier denn überhaupt richtig sei, wollte sie zu Beginn wissen, sie sei ja nicht mittellos. Das Frauenhaus jedoch ist Anlaufstelle für alle Frauen, die häusliche Gewalt erlebt - egal aus welchem gesellschaftlichen Milieu, aus welcher Schicht, mit oder ohne Behinderung. Denn die Verantwortlichen dort wissen: Der Schmerz macht keine Unterschiede.

Frauen, die von Partnergewalt betroffen sind, können sich rund um die Uhr an die Frauenhilfe München wenden: 089/35 48 30. Die Beratungsstelle in der Winzererstraße 47 bietet offene Sprechzeiten immer dienstags zwischen 16 und 18 Uhr und nach Vereinbarung. Weitere Informationen auch im Internet unter www.frauenhilfe-muenchen.de.

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