Am Ende nahmen sie ihn am Flughafen in Panama fest, da hatte Carlos Caesar Ch. den Ernst seiner Lage noch gar nicht begriffen. Der Drogenboss aus Nigeria war in den Jahren vor dem Zugriff ständig unbehelligt durch Südamerika gereist, auch mit dem Flugzeug. Er besaß verschiedene Pässe mit verschiedenen Nationalitäten, er hatte die richtigen Leute geschmiert. Der Mann hatte haufenweise Kohle, er fuhr teure Geländewagen und Sportwagen, ihm unterstand eine weltumspannende Organisation professioneller Kokainschmuggler. Er hatte Macht. Was also sollte ihm schon passieren? Dachte er.
Kurz darauf lieferte ihn Panama an die Bundesrepublik aus. Was Geheimdienste und Interpol, Zollfahnder aus München und Staatsanwälte nach jahrelanger Ermittlungsarbeit gegen ihn in der Hand hatten, das ahnte Ch. nicht einmal im Ansatz. Sie wussten, dass seine nigerianischen Helfer in Augsburg Frauen erst die große Liebe vorspielten und sie dann als Drogenkuriere um die Welt schickten, um das Kokain schließlich über halb Europa zu verteilen.
Manche Frauen waren schwanger, manche schluckten das in Kondome gepresste Kokain, um bei Kontrollen nicht erwischt zu werden - bis zu 1,5 Kilogramm pro Schmuggelauftrag. Die Ermittler wussten auch, dass es eine 17-Jährige gab, die von Stadt zu Stadt flog, um das Drogengeld zu transportieren. Eine besonders perfide Masche war das, welcher Zöllner filzt schon eine Minderjährige auf Drogengeld? Und die Fahnder konnten ihr Wissen belegen, durch Zeugenaussagen und zahlreiche Dokumente, die sie über die Jahre gesammelt hatten.
"Jetzt sitzt er hier in Haft, 14 Jahre", sagt Georg Kull über den Drogenboss. Der Münchner Zollfahnder ist der Mann, der Ch. verfolgt hat, knapp zehn Jahre lang. Er hat ihn gejagt, nicht mit der Waffe, sondern mit Akribie: 78 Ordner über den Nigerianer und seine Organisation hat Kull mit seinen Kollegen während der Ermittlungen angelegt, darin aufgelistet sind unter anderem Geldbewegungen, Flugrouten und Schmuggelwege. Der 64-Jährige und seine Leute haben den nigerianischen Drogenring beobachtet, analysiert und dann den Boss gekriegt, was nicht oft vorkommt. Der Erfolg der Fahnder gibt einen seltenen Einblick in den millionenschweren Handel mit Kokain.
Angefangen hatten die Ermittlungen 2003 in Großbritannien. Dem National Intelligence Service waren zwei deutsche Frauen aufgefallen, die von London nach Georgetown in die ehemalige britische Kolonie Guyana reisen wollten. "Nicht unbedingt ein typisches Urlaubsland", sagt Kull. Als die Frauen vier Wochen später im Februar wieder zurückkehrten, observierten die Engländer sie: Es dauerte nicht lange, da erwischten die Fahnder die beiden bei der Übergabe von 1,2 Kilogramm Kokain an einen Nigerianer. Eine der Frauen erwartete ein Kind.
Später gab sie zu, dass sie die Schwangerschaft gezielt benutzte, um Röntgenkontrollen zu entgehen. Auch andere Frauen handelten wohl so. Dass sie damit ihre Babys einer extremen Gefahr aussetzten? Egal. Die Ermittler identifizierten weitere vier Frauen aus Augsburg, die sie ebenso verdächtigten, Kurierinnen zu sein. Die Vermutung erhärtete sich, weil eine von ihnen bereits im Dezember 1997 am Flughafen Karatschi in Pakistan mit 1,1 Kilogramm Heroin festgenommen worden war. Offenbar weil auch sie damals schwanger war, hatten die pakistanischen Richter sie mit einem außergewöhnlich milden Urteil von zwei Jahren Haft und einer Geldstrafe davonkommen lassen.
In München setzten sich nun Experten der Gemeinsamen Ermittlungsgruppe Rauschgift von Zollfahndungsamt und Bayerischem Landeskriminalamt zusammen, darunter auch Kull. Sie bildeten das Ermittlungsteam "Augusta" und überwachten Telefone, sie observierten Verdächtige, und sie entlarvten so die Masche des nigerianischen Drogenkartells. Afrikaner, die schon lange im Raum Augsburg lebten, sprachen die späteren Kurierinnen an, etwa in Clubs. Es waren Frauen, die bis dahin nicht viel Glück gehabt hatten im Leben. Keine Ausbildung, schlechter Beruf, wenn überhaupt.
Es sah aus wie die unverhoffte große Liebe, aber irgendwann schwärmten die Männer den Frauen von der Arbeit als Drogenschmuggler vor: Ein paar Mal um die Welt fliegen, tropische Länder sehen, gutes Geld machen - halt mit etwas Kokain im Gepäck oder auch im Bauch, mit Hilfe von reichlich Öl in Kondomen verpackt geschluckt oder vaginal eingeführt. Die Frauen machten mit, aus Liebe, aber auch wegen des Drucks, den die Männer auf sie ausübten. Und sicher auch, weil sie sich fortan keine Sorgen mehr um ihren Unterhalt machen mussten.
Nach der Festnahme der Kurierinnen in London aber gab es erst einmal keine Aufträge mehr. Drogenboss Carlos Caesar Ch., der hauptsächlich in Guyana lebte, war gewarnt. Frauen, die gerade unterwegs waren, beorderte er in Verstecke, etwa nach Kanada, oder er ließ sie als Boten nur durch die Karibik fliegen. Manche bewegten sich monatelang nicht, andere verschleierten ihre Routen, indem sie immer wieder kurzfristig umbuchten und für Kontrollen nicht zu stellen waren. "Das verlief sich im Sand", sagt Kull. Erst gegen Ende 2003 wurden die Schmuggler wieder aktiver - prompt flogen zwei Frauen aus Augsburg in Amsterdam auf. Sie hatten mehr als zehn Kilogramm Kokain dabei, in den Streben ihrer Koffer versteckt.
Während die in London festgenommenen Kurierinnen zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt wurden, belegten niederländische Richter die in Amsterdam aufgeflogenen Frauen nur mit einem zweijährigen Einreiseverbot. Allerdings wurden die Schmugglerinnen im Jahr 2004 nach Deutschland überstellt - und zeigten sich sehr aussagefreudig. Die Ermittlungsgruppe Augusta nahm wegen dieser Hinweise weitere Augsburgerinnen fest, die nigerianische Lebenspartner hatten. Viel wichtiger aber war: Die Fahnder gewannen einen Einblick in die Logistik des Drogenkartells.
Die Nigerianer unterhielten drei Zulieferungsschienen, um das Kokain aus Südamerika nach Europa zu schaffen. Von Ländern wie Ecuador, Curaçao, Guyana oder Surinam flogen die Kurierinnen zu den Verteilerzentren Madrid, Amsterdam und London. Sogenannte Bereichs-Chiefs ließen den Stoff dann weiter transportieren: zum Beispiel nach Gran Canaria, Norwegen, Italien, Österreich, in die Schweiz und auch nach Deutschland. Damit die Frauen erst gar nicht auf die Idee kamen abzuspringen, standen sie ständig unter Kontrolle.
Im Servicebereich von Flughäfen arbeiteten Helfer des Schmuggelrings und behielten sie im Auge. Die Kurierinnen erhielten Anrufe vor Abflügen und nach der Landung. Und immer wurden sie von Taxifahrern abgeholt, die ebenfalls für das Kartell arbeiteten. Während die übrigen Frauen erwachsen und bis zu 52 Jahre alt waren, setzten die Dealer die 17 Jahre alte Augsburgerin ein, um das Drogengeld zu transportieren. Sie reiste ständig zwischen Amsterdam und anderen europäischen Hauptstädten wie Oslo, Rom oder Madrid hin und her.
Das Verteilerzentrum für Deutschland war in Berlin angesiedelt. Der Stoff wurde aus Madrid angeliefert, wo sich ein Nigerianer um die Geschäfte kümmerte. Der Boss der Zwischenhändler in Berlin war ein Deutscher. Die Ermittler hatten genug Informationen, um den Berliner Schmuggelring hochgehen zu lassen, der Prozess folgte einige Zeit später im Jahr 2007. Das Landgericht Potsdam verurteilte die beiden Bereichs-Chiefs aus Madrid und Berlin zu zwölf und neun Jahren Haft.
Den sechs festgenommenen Kurierinnen und ihren nigerianischen Lebensgefährten aus Augsburg wiesen die Ermittler 39 Kurierflüge nach, bei denen mindestens 100 Kilogramm Kokain nach Europa geschmuggelt wurden. Es gilt als sicher, dass es noch zahlreiche andere Schmuggelflüge und viele Kilogramm mehr Kokain gab, die aus Südamerika angeliefert wurden. Das Landgericht Augsburg verhängte gegen die Frauen ein Gesamtstrafmaß von 39 Jahren. Vor Gericht gaben sie an, 200.000 Euro Kurierlohn erhalten zu haben.
In München war Georg Kull vor allem damit beschäftigt, die Geldbewegungen aus den Drogengeschäften nachzuvollziehen. Dem Ermittler und seinen Kollegen gelang es, über die Hauptzentrale der Western Union in New York Einblick auf den Geldfluss des Kartells in den Jahren 2002 bis 2004 zu nehmen. In den schwer zu entschlüsselnden Unterlagen schafften es die Ermittler, für diesen Zeitraum Zahlungen von wenigstens 255.000 Euro an Carlos Caesar Ch. nachzuweisen. 55.000 Euro waren an einen Afrikaner gegangen, den alle nur "Chief" nannten - die rechte Hand des Drogenbosses.
Doch dabei blieb es nicht: Die Ermittler entdeckten Zahlungen von mehr als 100 Nigerianern, die als Zwischenhändler für die Verteilung der Drogen in Europa zuständig waren. Eine Analyse in Zusammenarbeit mit dem Bundeskriminalamt (BKA) ergab, dass tatsächlich all diese Verdächtigen in den internationalen organisierten Drogenhandel verwickelt waren. Die Ermittler aus München teilten ihr Wissen mit den Drogenbekämpfungsbehörden der betroffenen Länder, die die Fälle übernahmen.
"Wir haben die Organisation angeschlagen, aber nicht zerschlagen", sagt Ermittler Kull. "Wenn man einen festnimmt, nehmen andere Kriminelle die Positionen ein." Den Drogenboss wollten die Münchner Fahnder aber auf jeden Fall noch erwischen, im Jahr 2004 erließ die Staatsanwaltschaft Augsburg einen internationalen Haftbefehl. Verbindungsbeamte des BKA in Mittelamerika und Südamerika wurden einbezogen, eine erste Ortung des Kartellchefs glückte Ende 2004: Agenten von Interpol meldeten, dass Ch. in Guyana in Haft genommen worden war. Nationale verfahrenstechnische Unstimmigkeiten, so hieß es, führten allerdings dazu, dass er schnell wieder freikam. "Wir kamen nicht an ihn ran", sagt Kull.
Der Drogenboss hatte offenbar wirklich gute Verbindungen - und tauchte ab. Die Ermittlungsgruppe Augusta löste sich auf. Kull aber blieb dran an dem Fall. Er packte alle Ordner in sein Büro beim Zollfahndungsamt in der Landsberger Straße und recherchierte weiter. Acht Jahre blieb er hartnäckig, dann fassten sie Carlos Caesar Ch. Interpol Washington hatte Informationen erhalten, wonach der Drogenboss am 20. September 2012 von Quito in Ecuador zu einer Zwischenlandung nach Panama reisen würde. Jetzt hatten sie ihn, und sogar die Auslieferung nach Deutschland klappte reibungslos - weil Ch. ihr leichtsinnig zustimmte. Er glaubte, die Deutschen hätten nichts in der Hand gegen ihn.
Da täuschte er sich, die Liste der Tatvorwürfe ist lang: Großhandelseinkauf von Drogen, die Organisation für den Schmuggel des Kokains durch Bodypackerinnen, also Frauen, die den Stoff im Magen durch Kontrollen schleusen. Das Präparieren von Gepäckstücken, die Anwerbung von Kurierinnen und die Kontrolle des Handels von Südamerika nach Europa. Die Ermittler wiesen ihm zwar wohl nur einen winzigen Bruchteil dessen nach, was er tatsächlich gehandelt hatte. Aber die Belege über den Schmuggel von mindestens 100 Kilogramm Kokain reichten beim Urteil im Juli für 14 Jahre Haft. 100 Kilo reiner Stoff wird hier auf 400 Kilo Verkaufsware gestreckt und in München zu etwa 80 Euro das Gramm verkauft - hat also einen Wert von etwa 32 Millionen Euro.
Die Verhandlung in Augsburg musste teilweise in einer Klinik stattfinden. Eine der Frauen, die gegen den Drogenboss aussagten, war wieder einmal hochschwanger gewesen und hatte auf dem Weg zum Prozess eine Sturzgeburt erlitten.