Fotografische Zeugnisse:Ein Blick in die Wunde

Menschen sind in der Parkstadt Schwabing nur Randfiguren, zeigt die Ausstellung "Zeichen der Zeit"

Von Stefan Mühleisen, Schwabing

Geschichte muss man mit dem Bleistift schreiben, hat der französische Historiker und Publizist Pierre Gaxotte einmal notiert: Es lasse sich dadurch leichter radieren. Ein spöttisches Bonmot zur Angewohnheit, die frühere Sichtweise auf die Historie zu tilgen und mit der eigenen zu überschreiben. Interessant wird es, wenn schon während des Geschehens radiert wird - und die Geschichte von Plänen, Wünschen, Konzepten handelt, zum Beispiel vom Münchner Wohn- und Geschäftsquartier Parkstadt Schwabing.

Parkstadt Schwabing in München, 2019

Unter anderem Bürobauten prägen die Ästhetik der Parkstadt.

(Foto: Catherina Hess)

Seit Montag muss im Fall dieses Stücks Stadt der ganz große Radiergummi herausgeholt werden: Die Firma Argenta, größter Grundeigentümer in diesem 40 Hektar großen Gebiet nördlich der Schenkendorfstraße, will nun doch nicht 800 Wohnungen auf den Restflächen bauen - sondern Büros. Ein Paukenschlag, der die Stadtpolitik aufschreckt. "Schockierend", nennt Grünen-Fraktionschefin Katrin Habenschaden die Nachricht. Es ergeht der Appell an die Planungsbehörde und den Oberbürgermeister, die Verhandlungen wieder aufzunehmen. "Wenn die Änderung des Bebauungsplans absurde neun Jahre dauert, dann läuft hier gewaltig was schief", sagte ÖDP-Stadtrat Johann Sauerer.

Während die Kritik laut, das Bedauern groß ist, ereignet sich ein Glücksfall: Denn ein für dieses Sujet perfekt geeigneter Künstler aus Köln gastiert in München - und er führt mit einer Ausstellung im Kunstraum an der Holzstraße 10 vor Augen, dass da von Anfang an etwas gehörig schieflief. "Zeichen der Zeit. Zur Geschichte eines geschichtslosen Gebiets genannt Parkstadt Schwabing", hat der Fotograf Arne Schmitt die Schau betitelt.

Fotografische Zeugnisse: Arne Schmitt bietet ein gut recherchiertes Porträt des Viertels, das auch Wohngebiet sein soll, in Wahrheit aber von monolithischen Bauten der Hightech-Wirtschaft dominiert wird.

Arne Schmitt bietet ein gut recherchiertes Porträt des Viertels, das auch Wohngebiet sein soll, in Wahrheit aber von monolithischen Bauten der Hightech-Wirtschaft dominiert wird.

(Foto: Sebastian Gabriel)

Der 35-Jährige bietet ein gut recherchiertes Porträt dieses Viertels, das auch Wohngebiet sein soll, in Wahrheit aber von monolithischen Bauten der Hightech-Wirtschaft dominiert wird, den Komplexen von Amazon, Microsoft, Osram etwa. Schmitt nennt die Parkstadt ein "Business-Ghetto", seelenlos sei dieses Gebiet. "Warum hat die Stadt nicht versucht, etwas zu schaffen, wo die Menschen gerne leben?"

Das ist kein unreflektiertes Urteil. Denn Schmitt ist deshalb die Idealbesetzung für einen künstlerischen Augenschein der Parkstadt, weil im Zentrum seines Werks die historisch fundierte Betrachtung von Architektur und Städtebau der Nachkriegszeit steht. Er ist primär ein Vertreter der Dokumentarfotografie, wobei sein Werk mehr zeigen will, als das rein Sichtbare: Er formt aus Quellen - Zeitungsberichten, Bauakten, Landkarten - eine Art chronologisches Fundament, auf das er seinen fotografischen Blick stellt. Und der seziert auf Basis der Recherche die Wunden und Bruchlinien. Dafür ist Arne Schmitt 2018 mit dem Kunstpreis der Böttcherstraße in Bremen ausgezeichnet worden. Er hatte seine historisch-kritische Methode auf Ludwigshafen angewandt.

Fotografische Zeugnisse: In der Parkstadt finden sich unter anderem Komplexe von Amazon, Microsoft und Osram. Schmitt nennt die Parkstadt ein "Business-Ghetto", seelenlos sei dieses Gebiet.

In der Parkstadt finden sich unter anderem Komplexe von Amazon, Microsoft und Osram. Schmitt nennt die Parkstadt ein "Business-Ghetto", seelenlos sei dieses Gebiet.

(Foto: Stephan Rumpf)

Im Fall der Parkstadt ist der große Former Helmut Röschinger, Gründer und Inhaber der deutschlandweit umtriebigen Immobilienfirma Argenta sowie Gastgeber eines alljährlichen Sommerempfangs in seiner Krantz-Villa, zu dem Prominenz aus Kultur und Politik pilgert. Als Akteur bleibt er meist im Hintergrund; deshalb ist es folgerichtig, dass er in der Ausstellung nicht auftaucht - nur das, was er in der Parkstadt geschaffen hat: ein Quartier, beherrscht von der glatten Ästhetik der Geschäftswelt, in dem sich die Hinweise, dass es in dieser Bürowelt auch Bewohner gibt, mühsam behaupten müssen. Abzulesen ist das an den Schwarz-Weiß-Fotografien im ersten Stock: lauter Firmenschilder mit ihrem kantigen Design, jedes für sich ein Monolith. Dagegen sind die Embleme der Stadtgesellschaft - ein Kita-Türschild, ein Aushangkasten der lokalen Politik - dünn gesät. Ein knappes Dutzend Zeichen der Nahversorgung (Supermarkt, Apotheke, Bäckerei et cetera) sind auf eine einzige Stele gequetscht. Das macht den Stellenwert der Wohnbevölkerung klar: Sie sind Randfiguren in einer Büro-City.

Dabei hat das irgendwie Charakterlose dieses Areals eine lange Tradition, wie die Ausstellung anhand von historischen Fotos dokumentiert. Seit 100 Jahren wird nach Kräften herumradiert an der Topografie, wie Bauakten zeigen, die Schmitt im Stadtarchiv gefunden hat: Straßennamen und -verläufe ändern sich über die Jahrzehnte, bis der Baustoff- und Treibstoffhändler Raab-Karcher das Gelände in den Sechzigerjahren zum Industriegebiet formt. Dann tritt die Argenta auf den Plan, die mit großem Brimborium im März 2000 den Raab-Karcher-Firmensitz sprengen lässt. Da wird bereits eifrig an der neuen Geschichte für die Parkstadt geschrieben. Ein städtisches Gesicht soll das Neubaugebiet erhalten, mit einem zentralen Boulevard mit Läden und Cafés. Dazu eine zentrale Parkanlage, flankiert von Biergärten, Pavillons, Spielplätzen.

Fotografische Zeugnisse: Ansichten der Parkstadt: Arne Schmitt fotografiert auch kantige Firmenlogos, sie tragen zum Erscheinungsbild des Wohn- und Gewerbegebiets bei.

Ansichten der Parkstadt: Arne Schmitt fotografiert auch kantige Firmenlogos, sie tragen zum Erscheinungsbild des Wohn- und Gewerbegebiets bei.

(Foto: Arne Schmitt)

Der Park kommt, allerdings empfinden ihn die Parkstädter als steril und künstlich. Auch Pavillons gibt es, "doch die sind reine Deko", findet Schmitt, wobei er sich verblüfft zeigt, dass die ursprünglichen Ziele "in keinster Weise realisiert wurden". Erstaunlich ist das auch deshalb, wenn man den Kommentar von Alt-OB Christian Ude bei der Sprengung des Raab-Karcher-Gebäudes vor Augen hat. Er sprach da von einem "Musterbeispiel für Public-private-Partnership". Es entwickelte sich eher zu einem Public-private-Missverhältnis. Die Divergenz von Anspruch und Wirklichkeit zeigt sich für Schmitt auch an den Straßennamen. Mies-van-der-Rohe-Straße, Oskar-Schlemmer-Straße: Referenzen an Vertreter der Bauhaus-Avantgarde. "Aber alles was in der Parkstadt steht, ist eine Beleidigung für alles, wofür das Bauhaus stand", sagt der Künstler.

Die Schau im Kunstraum, Holzstraße 10, läuft bis 8. Dezember. An diesem Freitag, 1. November, findet dort ein Podiumsgespräch mit Arne Schmitt und der Münchner Architektin Julia Hinderink statt. Beginn ist um 19 Uhr, der Eintritt ist frei.

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