Süddeutsche Zeitung

Fotografie:Orthodoxer Eros

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Ein Gespräch über Tradition und Sinnlichkeit mit dem Fotografen Benyamin Reich, der in einer streng religiösen jüdischen Familie aufwuchs. Derzeit zeigt er in München seine Bilderserie "Schtreimel"

Interview Von Jutta Czeguhn

Der Hut seines Vaters, das ist der Schtreimel, eine Fellmütze, wie sie die chassidischen Juden tragen. Benyamin Reich, in Israel in einer ultraorthodoxen Rabbiner-Familie aufgewachsen, widmet dieser Kopfbedeckung eine faszinierende Bilder-Serie. Der 40-Jährige, der in Paris studiert hat und heute in Berlin lebt, stellt noch bis zum 3. Februar bei "Ansoho", Dreimühlenstraße 24, aus ( Öffnungszeiten: Montag bis Donnerstag und Samstag, 10 bis 14 Uhr, Künstlergespräch am 17. Dezember, 11 Uhr). Im Interview erzählt Reich, wie er über die Fotografie sein Jüdischsein, in all seinen Widersprüchlichkeiten, neu kennengelernt hat. Sein Vater, der Rebbe, scheint da eine Rolle zu spielen.

SZ: Es gibt Porträts in der Ausstellung, auf denen Ihr Vater, ein ultraorthodoxer Rabbi, zu sehen ist. Wie steht er zu Ihren Arbeiten?

Benyamin Reich: Dass mein Vater als ein so frommer Mann so prominent in meinen Werken erscheint, mag zunächst überraschen. Doch gibt es auch in der charedischen, also der jüdisch-ultraorthodoxen Welt sehr tolerante Menschen. Einer davon ist mein Vater. Nicht nur, dass er den Großteil meiner Arbeiten sehr schätzt, er war auch stets bereit, für mich Modell zu stehen. In einem meiner älteren Werke habe ich ihn sogar als Abraham bei der Opferung seines Sohnes Isaak inszeniert. Im Allgemeinen zeige ich meinen Vater gerade in Umwelten, die seiner Erscheinungsform entgegengesetzt sind. Man kann dies auch ikonografisch beschreiben: Mein Vater, als eine Gestalt, die aus einer nicht-westlichen Gesellschaft stammt, wird verschiedenen anderen modernen und auch historischen Lebensformen ausgesetzt. Dadurch entstehen interessante Spannungen, die helfen können, tiefgründige und selbstkritische Reflexionen auszulösen.

Wenn Sie die Augen schließen und an Ihre Kindheit denken, welche Bilder kommen Ihnen in den Sinn?

Eine Szene, die mir in den Sinn kommt, ist, wie neidisch ich in späteren Jahren meiner Kindheit immer auf meine Schwestern war. Als Junge durfte ich nur schwarz-weiße Kleidung tragen, jeden Tag dasselbe Muster, während meine Schwestern eine viel größere Auswahl an Formen und Farben zur Verfügung hatten. Auch mussten wir als Jungen immer alle Gebote der Tora und alle traditionellen Gesetze streng einhalten, während die Mädchen und die Frauen von vielen Dingen befreit waren. Das empfand ich, ironischerweise, als unfair für die Männer.

Sie haben diese Welt zurückgelassen, aber sie scheint Sie immer noch heimzusuchen oder zu inspirieren.

"Zurücklassen" ist ein schweres Wort. In meiner Empfindung habe ich eher das Zimmer gewechselt. Die Welten, in denen ich mich bewege, nehme ich als unterschiedlich eingerichtete Zimmer einer großen Wohnung wahr. Als Kind lebte ich nur in dem einen Zimmer, dessen Tür von außen verschlossen war. Doch nun stehen alle Räume offen, und ich kann mich in meiner Wohnung frei bewegen. Zwar halte ich mich nicht die meiste Zeit in meinem alten Kinderzimmer auf, doch gehe ich noch immer gerne hinein. Dort habe ich meine Erinnerungen und meine Inspirationen. Dies beeinflusst im Besonderen auch mein künstlerisches Werk.

Da ist diese Innen-/Außenperspektive in Ihren Arbeiten, die fasziniert. Gilt sie generell für Ihr Leben?

Ja, auf jeden Fall! Ich denke, dass jeder Künstler und Fotograf die Aufgabe hat, sich die ihm vertrauten Dinge auch mithilfe einer Außenperspektive anzuschauen. Nur so kann er über sich selbst hinauswachsen. In meinem Fall ist dies wohl ganz besonders wichtig und fruchtbar, da ich sehr unterschiedliche Wahrnehmungsweisen der Welt kennengelernt habe. Wenn ich mit meiner Kamera arbeite, fühle ich, dass ich meine eigene Identität verliere. Ich bin dann die Kamera und werde gänzlich dem fotografischen Motiv ausgesetzt. In einem zweiten Schritt verbinde ich diese Eindrücke mit meiner eigenen Gefühlswelt. Durch diesen Dialog entsteht das fertige Bild.

Einige Ihrer Motive könnten (ultra-)orthodoxe Menschen provozieren, ist das Ihre Absicht?

Überhaupt nicht. Erst vor einem Monat habe ich einige meiner Bilder der orthodoxen Chabad-Gemeinde in Berlin für ihren Jahreskalender zur Verfügung gestellt. Und auch allgemein habe ich immer gut mit vielen jüdischen Gemeinden zusammengearbeitet. Ich wäre sehr glücklich, wenn ich wüsste, dass alle Juden, unabhängig von ihrer religiösen Denomination, mich akzeptieren würden. Doch ich weiß, dass dies unrealistisch ist. In der Orthodoxie gelten sicherlich viele meiner Bilder als Provokation. Ich denke, dass dies vor allem daran liegt, dass ich ein Mensch der Übergänge bin. Ich überspanne Grenzen und transzendiere sie, führe als gegensätzlich wahrgenommene Elemente in neuen Einheiten zusammen. Für sehr fromme Leute, die eben die anderen Welten nicht kennen, die ich da mit der ihrigen verbinde, sieht das provokativ aus. Wie eine Entweihung der Tradition. Ich empfinde diesen potenziellen Konflikt als überflüssig und eher als schade.

Wie wichtig ist die Erotik in Ihren Arbeiten?

Hier gibt es zwei Aspekte. Zum einen ist Erotik für die Fotografie als Ganzes wichtig. Jede Kunst zeichnet sich dadurch aus, dass sie nicht dokumentarisch die Realität abbildet, sondern die uns bekannte Welt ein wenig erweitert. Da gibt es Dinge, die uns eine Malerei besonders vor Augen führen will, andere aber werden unterschlagen, fantastisch verändert oder romantisiert. All dies erzeugt im Betrachter eine emotionale Reaktion, etwa eine Anziehung oder Ablehnung. Die Fotografie nun zeichnet sich durch einen Realismus aus, der in jeder anderen Kunstform seinesgleichen sucht. Daher läuft sie Gefahr, zur reinen Dokumentation zu verkommen. Ein Weg, das Geheimnisvolle und Transzendente in der Fotografie zu entwickeln, ist die Erotik. Denn Sehnsucht und Hingabe erlauben es dem Menschen, die Welt mit stärkerem Bewusstsein zu sehen. Was als attraktiv empfunden wird, wird oft auch als perfekt wahrgenommen. Dieses Gefühl, diese geheimnisvolle Aufwertung der Wahrnehmung versuche ich auch mit der Fotografie einzufangen. Der zweite, persönlichere Punkt hat wieder etwas mit meiner Herkunft zu tun. In der charedischen Welt hat die Erotik keinen Platz, was wohl auch damit zu tun hat, dass die Erotik und die Religion beide ähnliche Bedürfnisse des Menschen nach der Überschreitung des Bekannten ins Metaphysische ansprechen. Daher sind sie auf gewisse Weise Konkurrenten. Beide erzählen uns, dass die reine Materie nicht ausreichend ist, sondern durch etwas Höheres ergänzt werden muss. Denn auch die Erotik, ungleich der Pornografie, sieht ja nicht im physischen Sexualakt das Erstrebenswerte, sondern in der vorher stattfindenden, kaum beschreibbaren sanften Begierde. Erotik und Religion sind beide mit Ehrfurcht auf das Verborgene hin ausgerichtet.

Sie sind 2009 nach Berlin gezogen, was fasziniert Sie an der Stadt?

Viele Leute fragen mich, was besonders an der Stadt sei. Sicherlich hat mein Empfinden etwas damit zu tun, dass ich jüdisch bin, von Schoa-Überlebenden abstamme und dass ich aus Israel komme. Eine Stadt, die so viel erlebt hat, was mit deiner eigenen Identität zu tun hat, hat immer auch mythische Konnotationen. Andererseits fühle ich ganz einfach, dass die Stadt mich so angenommen hat, wie ich bin, und offen ist für verlorene Seelen wie mich.

Wenn Sie sich selbst begegnen würden, dem kleinen Jungen aus der Jeschiwa, was würden Sie ihm sagen?

Auch das ist eine schwierige Frage. Ich gehe davon aus, dass ich keine Worte hätte, mit denen ich meine Gefühle beschreiben könnte, die ich in den Jahren zwischen ihm und mir ausgeprägt habe. Ich würde ihn wohl einfach umarmen und weinen.

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Quelle:
SZ vom 04.11.2017
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