Fotografie:Das Tor zur anderen Welt

Lesezeit: 4 min

Karen Irmer erschafft mittels subtiler Bildbearbeitung geheimnisvolle Landschaften

Von Sabine Reithmaier

Eine Landschaft in verschwommenem Licht. Wuchtige Bäume, deren belaubte Kronen - oder sind es Wurzeln - sich in einem Gewässer spiegeln. Denkt man jedenfalls im ersten Moment. Doch die Wahrnehmung trügt. Die Spiegelung entpuppt sich als ein auf dem Kopf stehendes zweites Foto, das Bäume mit hochragenden kahlen Ästen zeigt. "Eigentlich ein Wendebild", sagt Karen Irmer und lacht. "Kann man hängen, wie man will."

Die Augsburger Foto- und Videokünstlerin löst gern Irritationen aus. Sie mag es, mit der Wahrnehmung des Betrachters zu spielen, den Moment herauszukitzeln, in dem scheinbar Reales ins Irreale kippt. Ihre Aufnahmen wirken fast wie Gemälde. Eine diffuse Unschärfe, eine auffällige Körnung, schon wandelt sich eine an sich nahezu vertraute Waldumgebung in geheimnisvolles Terrain. Auch schieben sich in ihrem Atelier Eisschollen übereinander, wabert eine Schneelandschaft in konturlosem Weiß, mischen sich Gischt und Wolken. Dunkel, mystisch, bedrohlich, melancholisch - Karen Irmer legt den Kopf leicht schief, während sie die Attribute aufzählt, mit denen ihre Arbeiten charakterisiert werden. Sie wolle jedenfalls keine verkitschte romantische Welt darstellen, sagt sie dann. Aber auf die Idee kommt vermutlich ohnehin niemand.

Die Bilder, meist große Formate, erschließen sich nicht schnell. Doch wer sich Zeit nimmt, entdeckt ständig Neues, bemerkt, dass sie sich je nach Lichteinfall und Tageszeit verändern. Rein technisch gesehen funktioniert das durch die Verwendung eines speziellen metallischen Hochglanzpapiers mit einer matten Beschichtung. Aber über technische Details mag Irmer nicht viel reden, die Beschaffenheit der Oberflächen ist für sie integraler Bestandteil der Fotos. Lieber spricht sie darüber, dass ihre Bilder besser in privaten Räumen hängen als in Galerien. "Erst wenn man sie den ganzen Tag bei sich hat, entfalten sie ihre volle Wirkung."

Ihre Motive findet sie in der Natur. Einfach losfotografieren geht natürlich nicht. "Ich muss mich erst eine Weile in der Umgebung bewegen, deren Rhythmus erfassen, in einen Dialog mit ihr treten." Gehen, sitzen, schauen. Irgendwann kommt der Moment, an dem sie weiß, das ist ihr Motiv. Es kann oft Tage dauern, bevor sie das erste Foto macht. "Ich brauche viel Zeit." Genauso wie der Betrachter.

Das ruhige lange Sitzen, das beharrliche Beobachten habe sie aus ihrer Kindheit behalten, sagt Irmer. Damals litt sie an Asthma, schlief in vielen Nächten kaum, fühlte sich tagsüber wie unter einer Glocke. Stundenlang saß sie am Fenster und sah zu, wie Regentropfen die Scheibe herunterrollten. "Das ist mir geblieben."

Nach dem Fotografieren bleiben die Bilder oft monatelang liegen. Erst wenn die Erinnerung an den realen Ort ein wenig verblasst ist, sichtet sie die Fotos am Computer erneut. "Dann hab' ich einen klareren Blick drauf." Oft fügt sie Fotos zusammen. Die Anschlusskante bleibt sichtbar, aber man nimmt sie nicht wahr.

Irmer leidet, wenn sie etwas schnell verarbeiten soll. "Das setzt mich wahnsinnig unter Druck." Sie braucht Zeit, um ihre Motive zu studieren, beispielsweise Vögel und ihr Flugverhalten. Die Bewegungsbeobachtungen flossen 2018 in eine ihrer drei Videoinstallationen für die Augsburger Moritzkirche ein. Auch diese Arbeiten kennzeichnet eine leise, fast unmerkliche Transformation, alles, ob Horizont oder Landschaft, verändert sich extrem langsam, die Grenzen sind fließend. Alles strahlt große Ruhe aus.

Inspiration für ihre Arbeiten holt sie sich auf Reisen. "Sehr wichtig", sagt sie, denn dann falle der Alltagsrhythmus von ihr ab, sei die Zeit nicht mehr begrenzt. Sie bevorzugt karge Gegenden im Norden, in denen das Wetter oft wechselt, zuletzt reiste sie in die Tundra Lapplands und an die Barentssee. Das Ungemütliche, das körperlich Anstrengende tue ihren Arbeiten gut, findet sie. Im Süden dagegen sei alles warm und leicht, "da fehlt mir die Intensität, auch im Licht."

Studiert hat die 1974 in Friedberg geborene Künstlerin in Augsburg und München. Erst Kommunikationsdesign. Dann lernte sie bei einem Meisterkurs den Maler Gerd Winner kennen, eine Schlüsselfigur für ihre Entwicklung. Er lud sie ein, bei ihm an der Akademie in München zu studieren. Irmer ging noch ein Jahr nach Frankreich, um sich in Illustration zu vertiefen, wechselte dann nach München, um zu malen. Das erste Semester lief schlecht, "ich kam nicht wirklich zurecht." Winner riet ihr, eine andere Technik zu probieren. "Das war der Einstieg ins Fotografieren." Als Winner die Akademie in den Ruhestand verließ, wechselte sie zu Sean Scully, wieder unter lauter Maler. Scully gestand ihr erst nur ein halbes Jahr Probezeit zu, "aber das war schnell kein Thema mehr." Im Atelier hängt eine frühe Schneelandschaft, entstanden in Slowenien.

Die Foto- und Videokünstlerin Karen Irmer. (Foto: Liesa Aumeier)

Genau dort habe sie kapiert, dass sie fotografierend eine eigene Welt schaffen wollte. Nach dem Studium ging sie 2007 nach Berlin, in München wollte damals kein junger Künstler bleiben. Gemeinsam mit Andreas Stucken und Angela Stauber gründete sie eine Galerie. Nach zwei Jahren war klar, dass ihr die Doppelfunktion als Galeristin und Künstlerin zu anstrengend war, sie kehrte nach Augsburg zurück. Stucken machte bis 2016 weiter, verlegte die "zweigstelle Berlin" dann ins Internet, gründete als Filiale "augsburg contemporary". Dort läuft gerade die Ausstellungsreihe "Domestic Space", in der Irmer mit "Visual Koan" vertreten ist, einer raumgreifenden Videoarbeit, die mit Hilfe einer Virtual-Reality-Brille in eine 360-Grad-Welt entführt.

Irmer findet die durch die Pandemie erzwungene Ruhe nicht bloß negativ. "Sie erspart mir das Gefühl, etwas Wichtiges zu verpassen oder mich zu wenig um meine Vermarktung zu kümmern." Jetzt sei es möglich, länger an Dingen zu feilen, auch wenn ihr der Austausch mit Kollegen fehle. Was die Auftragslage betrifft, so sieht sie dank eines Kunst-am-Bau-Projekts - ein Andachtsraum in einem Seniorenstift - und eines Stipendium in Klagenfurt mit anschließender Ausstellung gelassen in die Zukunft. Zu letzterer soll auch eine neue Monografie erscheinen. "Ich habe jedenfalls genug Fördermittel zusammen", sagt sie und hofft, dass im Sommer auch eine geplante Reise auf eine norwegische Leuchtturminsel klappt. "Da kann man sicher toll rundum fotografieren."

Karen Irmer in "Domestic space" , bis 6.3., "augsburg contemporary", Bergstr. 11. Derzeit nur als Online-Ausstellung in 3D, unter https://zweigstelle.berlin/i/domestic-space-or-fotografie

© SZ vom 17.02.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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