Das historische Schicksal, das auf dem Foto festgehalten wird, ist das Schicksal von Michael Siegel, einem jüdischen Rechtsanwalt, der auch an diesem Märztag im Jahr 1933, tat, was nicht nur seines Berufs wegen zu seinem Ethos gehörte: Er trat für das Recht eines seiner Mandanten, Max Uhlfelder, des Gründers und Besitzers des Kaufhauses Uhlfelder in der Innenstadt, ein, der am Tag zuvor als jüdischer Geschäftsmann unter dem Vorwand der "Schutzhaft" in das Konzentrationslager Dachau transportiert worden war.
Ohne Schuhe und mit abgeschnittenen Hosenbeinen trieben SA-Leute Michael Siegel am 10. März 1933 durch München.
(Foto: SZ-Photo)Siegel vereinbarte im Polizeipräsidium in der Ettstraße einen Termin, um Uhlfelders Freilassung zu fordern. Als er dort ankam, wurde er in einen Kellerraum gebeten, wo ihn eine Gruppe uniformierter SA-Leute brutal zusammenschlug. Mit den Stiefeln traten sie ihm die Vorderzähne ein, in einem Ohr platzte Siegels Trommelfell. Anschließend zerschnitt man seine Hosen und ließ ihn das Schild beschriften, mit dem er später barfuß und blutend von der Ettstraße bis zum Hauptbahnhof durch die Innenstadt Münchens marschieren musste.
Am Stachus entstand ein zweites Foto mitten im Verkehr, zwischen Trambahn und Autos, das deutlicher noch als das andere, den Stechschritt illustriert, der Siegel von den SA-Männern aufgezwungen wurde. Das ganze Bild scheint in einer Drehbewegung zu sein. Fast meint man die knallenden Stiefel der Nazis zu hören, die mit ausladenden Schritten und grimmig entschlossenen Gesichtern den misshandelten Rechtsanwalt in ihre Mitte genommen haben. Wieder sind unbeteiligte Zuschauer zu erkennen. Ein Mann hat seine Hände in die Hosentaschen gesteckt, ein anderer hastet im Bildhintergrund vorüber, als würde er die Menschenjagd neben sich nicht einmal bemerken.
SA-Männer verlangten Bilder der Schikane
Ein arbeitsloser Pressefotograf - Heinrich Sanden - soll die beiden Aufnahmen von Siegel gemacht haben. In einem Gespräch, das die Kulturhistoriker Diethart Kerbs und Brigitte Walz-Richter 1983 mit ihm geführt haben, berichtet er, wie er am 10. März am Stachus aus der Straßenbahn gestiegen sei, als er den Spießrutenlauf Siegels beobachtet habe. Sofort habe er seine Kamera gezückt, die er aus alter Berufsgewohnheit immer dabei gehabt habe. Dann sei er der Nazi-Truppe bis in die Prielmayerstraße gefolgt, wo das andere Foto entstanden sei.
Ein SA-Mann habe ihm da voller Stolz noch zugerufen: "He, da kriegn wir aber a Buidl davon, das bringst du uns in die Ettstraße, bei der Polizei, da findest du uns. . .". Später behauptete Karl Bömer, damals Leiter der Presseabteilung des Außenpolitischen Amtes der NSDAP, die Fotos seien gefälscht - eine These, die sich nicht halten lässt.
Allerdings gibt es von den Fotos, die Siegel in der Prielmayerstraße und am Stachus zeigen, mehrere Versionen. Und sie unterscheiden sich in einem Punkt: im Schriftzug auf dem Schild, das Siegel um den Hals trug. Tatsächlich konnte man wohl auf den Abzügen, die von den Negativen gemacht worden waren, die Heinrich Sanden der amerikanischen Presse verkauft haben soll, das Schild nicht mehr entziffern. Der Text wurde von jemanden nachgezeichnet - danach gingen zwei (später sogar noch mehr) Versionen der Bilder um die Welt. Auf dem einen stand "Ich werde mich nie mehr bei der Polizei beschweren", auf dem anderen "Ich bin ein Jude, aber ich will mich nicht über die Nazis beschweren".
Für den Leiter der Pressestelle des Außenpolitischen Amts der NSDAP Bömer eine willkommene Begründung, in seinem 1934 veröffentlichten Buch "Das Dritte Reich im Spiegel der Weltpresse", gleich die gesamte Szene als gestellt abzutun. Der Historiker Diethart Kerbs nimmt an, dass Bömer dies bewusst tat, um die ausländischen Medien als Lügner hinzustellen. Die Bilder waren unter anderem im Daily Mirror (New York) und im Daily Herold (London) veröffentlicht worden. Unter Auschwitz-Leugnern kursiert die Sichtweise Bömers, dass die Menschenjagd durch die bayerische Landeshauptstadt nie stattgefunden habe, bis heute. Vermutlich Hunderte Münchner Augenzeugen müssen es bereits 1933 besser gewusst haben.
Ulrich Frodien, der von 1954 an das Bildarchiv der Süddeutschen Zeitung und von 1955 an den Bilderdienst des Süddeutschen Verlages bis 1983 leitete, behauptete später in einem Leserbrief an die Süddeutsche Zeitung, er habe den Leiter der Chemigrafie (eine damalige Reproduktions- und Drucktechnik) angewiesen, die unleserlichen Buchstaben auf dem Foto, das entweder nach oder vor 1945 in den Besitz der Süddeutschen Zeitung gekommen sei, zu entziffern und nachzuzeichnen. Der Originaltext sei eindeutig zu erkennen gewesen und habe gelautet: "Ich werde mich nie mehr bei der Polizei beschweren."
Zweifel am Fotografen
Bea Green erklärt, ihr Vater habe immer gesagt, auf dem Schild habe gestanden: "Ich bin Jude und ich werde mich nie mehr bei der Polizei beschweren". Auch zweifelt sie daran, dass es Heinrich Sanden war, der ihren Vater fotografiert hat. Nach dem brutalen Marsch durch die Stadt sei ihr Vater in der Nähe des Hauptbahnhofs in ein Taxi gestiegen. Kurz zuvor hätten die Nazis ihn losgelassen und ihm nachgerufen: "Jetzt stirbst du, Jud." Als Michael Siegel die Autotür geöffnet habe, hätte ihn ein Mann mit amerikanischem Akzent angesprochen, sich als Fotograf vorgestellt und gefragt, ob er die Bilder veröffentlichen dürfe. Sanden sei aber weder Amerikaner noch Engländer gewesen.
Zweifellos wird in dem geplanten NS-Dokumentationszentrum an der Brienner Straße das Problem der Authentizität von Fotos als historische Zeugnisse thematisiert werden müssen, will man doch dort fast ausschließlich auf Bild-, Text- und Tondokumente setzen. Wie ist der Quellenwert von Fotos als historische Zeugnisse einzuschätzen? Was sagen die Fotos aus über die Haltung und die Reaktionen der deutschen Gesellschaft angesichts der radikalen öffentlichen Gewalt gegen die jüdische Minderheit?
Andreas Heusler vom Stadtarchiv hat sich bereits mit diesen Fragen beschäftigt. Im Stadtarchiv wird nämlich der Nachlass von Michael Siegels Sohn, H. Peter Sinclair, im Sachgebiet "Zeitgeschichte/Jüdische Geschichte" verwahrt. Mit diesen quellenkritischen Überlegungen stellt Heusler selbstverständlich die Brutalität gegen Michael Siegel nicht infrage. Heusler nennt die Bilder "vergemeinschaftete Ikonen der Erinnerungen unseres kulturellen Gedächtnisses".