Forschungsreaktor:Für alle Zeiten verkuppelt

60 Jahre Atom-Ei Garching

Der nach seiner Kuppel Atom-Ei benannte Forschungsreaktor ist mittlerweile außer Dienst.

(Foto: Stephan Jansen/dpa)

Vor 60 Jahren ging der erste deutsche Reaktor in Betrieb: das Atom-Ei in Garching

Von Sabine Dobel/dpa, Garching

Der älteste "Patient" war eine römische Gottheit: Die bronzene Merkur-Figur aus dem zweiten Jahrhundert nach Christus stammte aus einer Ausgrabung in Franken und landete 2009 im Forschungsreaktor Garching. Sie wurde dort per Neutronen-Tomografie untersucht. Ergebnis: Merkur ist hohl und seine Beine wurden nachträglich angesetzt - Indizien für eine antike Massenproduktion.

Der Forschungsreaktor FRM II in Garching wird von der Technischen Universität München betrieben und dient Wissenschaft, Industrie und Medizin als Neutronenquelle. Hier wird Material untersucht und Grundlagenforschung betrieben. Bestimmte Tumore wie Kehlkopf- oder Hautkrebs werden behandelt und Radio-Isotope für Diagnostik und Therapien hergestellt. Der knapp 435 Millionen Euro teure FRM II wurde im Juni 2004 eröffnet und ersetzte den FRM I - das Atom-Ei. Benannt nach seiner 30 Meter hohen Kuppel war es am 31. Oktober 1957 als erster Atomreaktor in Deutschland in Betrieb gegangen.

"Am Atom-Ei sind die Grundlagen dafür gelegt worden, dass Europa bei der Forschung mit Neutronen heute führend ist", sagt Professor Winfried Petry, wissenschaftlicher Direktor des FRM II. Garching sei eine der wichtigsten Neutronenquellen in Europa. Die Anlage sei damals "im großen Einverständnis mit der Bevölkerung" gebaut worden. Noch im Januar 1957 beim Richtfest gab es kaum Vorbehalte gegen Kerntechnik. Bald darauf sah die Lage anders aus: Drei Wochen vor dessen Eröffnung am 31. Oktober brannte es im britischen Kernkraftwerk Sellafield, Radioaktivität wurde frei und verteilte sich bis zum europäischen Festland.

Zwar gab es laut Petry weder im FRM I noch im FRM II je einen echten Störfall. Doch spätestens nach Tschernobyl 1986 formierte sich scharfer Protest gegen Atomenergie - und damit auch gegen den Garchinger Standort. Der neue Reaktor war nicht zuletzt umstritten, weil er mit hochangereichertem Uran betrieben wird. Gegner kritisieren, es handele sich um atomwaffentaugliches Material. Petry sagt hingegen: "Wir setzen hochangereichertes Uran ein, das aber eben nicht atomwaffenfähig ist." Mithilfe der Neutronenquelle kamen Physiker einer neuen Form magnetischer Ordnung auf die Spur. Sie biete bei der Datenverarbeitung Chancen zu einer noch dichteren Informationsspeicherung. Etwa ein Drittel der Kapazität des FRM II wird von Medizin und Industrie genutzt. Die Analysemöglichkeiten kommen in Luft- und Raumfahrt, Umwelttechnik, Chemie oder - wie im Fall des römischen Merkurs - in Archäologie oder Kunstgeschichte zum Einsatz. Mit Neutronen lassen sich Materialien besser durchleuchten als mit Röntgenstrahlen. Automobilhersteller prüfen hier Motoren. Batterien werden getestet. "Wir machen die Chemie der Batterien im Betrieb sichtbar. Das ist der Schlüssel zu ihrer Verbesserung", sagt Petry.

Gegner der Anlage sehen hingegen Sicherheitsmängel und fürchten bei Störfällen eine Freisetzung von Radioaktivität. Laut TU ist das Reaktorgebäude aber wie kaum ein anderes gegen Blitzschlag, Hochwasser, Erdbeben und Explosionen gesichert. Er sei der einzige Forschungsreaktor weltweit, der mit seiner 1,80 Meter dicken Stahlbetonhaut auch Flugzeugabstürze abfangen könne - eine Auflage wegen des nahen Flughafens in Erding. Nach ursprünglichen Auflagen des Bundesumweltministeriums sollte der Reaktor bis 2010 auf weniger angereichertes Uran umgerüstet werden. Doch dann wurde die Verwendung um acht Jahre verlängert, da laut Technischer Universität kein alternativer Brennstoff vorliegt. Sobald es eine Möglichkeit mit niedriger angereichertem Uran gebe, werde man umsteigen, verspricht Winfried Petry.

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