Süddeutsche Zeitung

Forschung in München:Das gute Leben in der Stadt

  • Johannes Moser und Laura Gozzer sind Teil einer Forschergruppe, die in acht Metropolen auf der ganzen Welt der Frage nachgeht, was ein gutes Leben in der Stadt bedeutet.
  • In München geht es ums Wohnen und auffällig ist, dass vor allem die Mittelschicht diskutiert - und nicht die, die am stärksten von der Wohnungsnot betroffen sind.

Von Pia Ratzesberger

Das gute Leben ist nicht weit entfernt an diesem Vormittag, im Englischen Garten haben sich die ersten ins warme Gras gesetzt. Die Sonne, der Eisbach, Waffeln mit Eis. Hinter den Bäumen, auf der kleinen Welle, surfen Schüler dem Tag entgegen. Ein paar Meter weiter aber, in einem kleinen Büro fast am Ende eines langen Ganges, sitzt ein Mann, der erforschen will, was ein gutes Leben in der Stadt überhaupt bedeutet. Und wer diese Bedeutung bestimmt.

Raum 012, Institut für Empirische Kulturwissenschaft und Ethnologie steht neben dem Türrahmen. Ein Mann mit kariertem, buntem Hemd öffnet. "Das kann heute ein bisschen theoretisch werden" sagt der Professor, er heißt Johannes Moser und ist 59 Jahre alt. Er hat kein Labor und keine Versuchsstrecke, er macht keinen Test unter künstlichen Bedingungen. Sein Labor ist die Stadt. In diesem Fall München. In diesem Fall das Wohnen in München.

Er ist Teil einer Forschergruppe, die in acht Metropolen auf der ganzen Welt der Frage nachgeht, was ein gutes Leben in der Stadt bedeutet, in Auckland, Istanbul, Tokio, Bukarest, Berlin, Moskau, Singapur, München. In jeder der Städte geht es um ein anderes Thema, in Moskau zum Beispiel um Protestbewegungen, in Auckland um Umweltverschmutzung, in Istanbul um Denkmalschutz. Und in München geht es - um was auch sonst - ums Wohnen. "Das wird nicht mehr nur politisch diskutiert, sondern vor allem auch ethisch", sagt Moser. Das Projekt nennt sich "Urbane Ethiken. Konflikte um gute und richtige städtische Lebensführung im 20. und 21. Jahrhundert", es geht um die Frage, wie man in der Stadt leben soll. Nur wie also?

Die Tür geht auf und Laura Gozzer kommt herein, 28 Jahre alt, feine, runde Brille. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut und arbeitet seit zwei Jahren in der Gruppe mit. Gozzer war seitdem vor allem bei Genossenschaften in München unterwegs, hat mit Bewohnern gesprochen, mit Initiatoren, Helfern. Sie sagt: "Das Ideal der Leute ist eine stabile, diverse Nachbarschaft, die sie vor Krisen schützt." Die Menschen, die solche Genossenschaften gründen, tun sich meistens nur kaum in diversen Gruppen zusammen, das seien "wie so oft in den Debatten ums Wohnen vor allem Leute aus der Mittelschicht." Den Genossenschaftsanteil müsse man sich leisten können.

Und das sei eine der wichtigsten Erkenntnisse aus ihrer Forschung: Die Menschen, die am meisten von den fehlenden Wohnungen betroffen seien, die Menschen ohne Wohnung nämlich, ohne Arbeit, hätten in den Debatten kaum eine Stimme. Wenn überhaupt, werde über sie gesprochen - in der zweiten Runde des Projekts soll es deshalb vor allem um sie gehen, aber da steht Gozzer noch am Anfang. Die Erkenntnis bisher: Über das Bild eines guten Lebens verhandelt in München vor allem die Mittelschicht.

Die Mittelschicht fühlt sich bedroht

Gozzer war bei Genossenschaften unterwegs, eine Kollegin untersuchte eine Bauwagensiedlung und Johannes Moser begleitete die Aktivisten von Goldgrundimmobilien, die mit kluger Satire ähnlich wie "The Yes Man" auf die irren Mietpreise in der Stadt aufmerksam machten. Die Debatte ums Wohnen sei auch so groß geworden, sagt Moser, weil sich jetzt auch die Mittelschicht bedroht fühle. Und weil man ihr zuhöre, an den Universitäten, in den politischen Gremien, in den Redaktionen.

In einem seiner Beiträge schreibt Moser: "Lange Zeit blieb die Entwicklung der hohen Mieten unterbelichtet, vielleicht weil München eine wohlhabende Stadt mit einer breiten Mittelschicht ist, die sich unter den gegebenen Bedingungen noch immer zurechtfinden konnte." Jetzt können sich viele nicht mehr zurechtfinden. Bei Goldgrund hätten sich ebenfalls vor allem Menschen aus der Mittelschicht engagiert, sagt der Professor, und das überrasche nicht. Sie verfügten über das notwendige "kulturelle Kapital", um gehört zu werden. In der zweiten Phase wird es dann um die Menschen gehen, denen niemand zuhört.

Die Forscher waren in allen acht Städten im Feld unterwegs, wie man das unter Ethnologen nennt, beobachteten und befragten die Menschen im Alltag. In Moskau hat sich eine Wissenschaftlerin mit LKW-Fahrern zusammengesetzt, um mehr über ihren Protest gegen die hohe Maut zu erfahren. In Tokio waren die Forscher in einem Viertel unterwegs, in dem sich die Bewohner viel von der Slow City Bewegung versprechen, in dem das Leben also nicht immer schneller, sondern immer langsamer werden soll.

Warum tut die Regierung nicht mehr für uns?

Und letztendlich, sagt Moser in seinem Büro im Institut am Englischen Garten, zeige sich in allen Städten, egal ob in München oder in Moskau: Wenn das gute Leben nicht eintritt - wie es jeder auch für sich definieren mag -, machen die Menschen schnell die Obrigkeit dafür verantwortlich, darum gehe es beim Konzept der moralischen Ökonomie. Warum tut die Regierung nicht mehr für uns, fragen die LKW-Fahrer in Russland dann, warum baut die Stadt nicht mehr Sozialwohnungen, fragen die Menschen in München. In allen Städten zeige sich aber schließlich auch: Wenn irgendwo ein Problem entsteht, sei es zu viel Müll, seien es zu hohe Gebühren oder zu wenige Wohnungen, könne "soziale Kreativität" entstehen. Menschen tun sich zusammen, schaffen Neues.

Oft verknüpfe sich dieses Engagement dann mit der Stadtpolitik, das beste Beispiel in München seien die Häuser des Bellevue di Monaco in der Müllerstraße, in denen Geflüchtete wohnen und sich im Café das Viertel trifft. Von Bürgern erdacht, von der Politik gefördert.

Fragt man Gozzer und Moser am Ende noch einmal, wie sie die Frage nach dem guten, richtigen Leben denn nun beantworten, sagen sie, es sei nicht ihre Aufgabe, Antworten zu geben. Sie wollen die Debatten nachzeichnen, offenlegen, wie die Menschen in der Stadt denken. Nicht mehr. Nicht weniger.

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SZ vom 01.06.2018/vewo
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