Forschung:Wer ist schuld, wenn das Baby schreit?

Forschung: Der Expertenrat an Eltern lautet, dem Kind Zeit zu lassen, sich selbst zu regulieren.

Der Expertenrat an Eltern lautet, dem Kind Zeit zu lassen, sich selbst zu regulieren.

(Foto: Stephan Rumpf)

Die Eltern jedenfalls nicht, sagt die Forschung. Acht bis zehn Prozent aller Kinder sind Schreibabys. Ihnen fehlt die Fähigkeit, sich selbst zu beruhigen.

Von Christina Berndt

Sie schreien und schreien. Manchmal mehr als eine Stunde am Stück, mehrere Stunden am Tag. Schreibabys beruhigen sich einfach nicht - und genau das scheint tatsächlich das Problem zu sein: Wenn ein Baby über die Maßen schreit, nicht durchschlafen kann oder extrem wählerisch beim Essen ist, sprechen Fachleute von "regulatorischen Problemen".

"Den Kindern fehlt die Fähigkeit, sich selbst zu beruhigen und aus einer schwierigen Situation heraus wieder in einen normalen, ruhigen Wachzustand zu kommen", sagt Psychologieprofessor Dieter Wolke von der Universität im britischen Warwick, ein Spezialist für regulatorische Probleme. Seit Jahrzehnten schon fahndet Wolke nach den Ursachen des Phänomens, das für Eltern oft traumatisch ist.

Von Schreibabys spricht man, wenn Kinder auch nach dem verbreiteten Kolikenschreien, das üblicherweise nach den ersten drei Lebensmonaten abklingt und bei dem es sich wohl um Anpassungsprobleme an die neue Umgebung außerhalb des Mutterleibs handelt, noch mehr als zwei Stunden pro Tag schreien. Acht bis zehn Prozent aller Kinder seien solche Schreibabys, sagt Wolke.

Fest steht dabei: Organische Ursachen spielen bei den Schreibabys eine untergeordnete Rolle. Ob ein Kind ein Frühchen und damit noch nicht so weit entwickelt ist, ist zum Beispiel - anders als bei den schlechten Essern - unerheblich. Womöglich gibt es genetische Hintergründe für das viele Schreien, die Kinder könnten einfach sensibler sein. In jedem Fall gibt es in Familien von Schreikindern mehr Stress. Aber ob das Ursache oder Wirkung ist? Schließlich verursachen Schreibabys ja ganz gehörigen Stress bei ihren Eltern.

Dieter Wolke ist es deshalb ganz besonders wichtig zu sagen: Die Eltern haben keine Schuld. Sie machen sich oft unnötig Vorwürfe, dass das viele Schreien an ihnen liegt. "Die Eltern tragen nur wenig zu den Regulationsproblemen ihrer Kinder bei", betont Wolke. Eltern überschätzen immer wieder, welche Auswirkungen sie auf ihre Kinder haben. Und sie unterschätzen, welche Auswirkungen die Kinder auf sie haben: "Eltern leben nur mit der Illusion, dass sie ihr Kind erziehen", sagt Wolke.

Schreibabys bekommen häufiger eine ADHS-Diagnose

Das Gute ist: Das Schreien hört in den meisten Fällen eines Tages auf - selbst wenn Eltern schon nicht mehr daran glauben. "Sie haben nicht zwingend ein schwieriges Kind fürs Leben", betont Wolke. Was er allerdings einräumen muss: In manchen Fällen bleibt es doch schwierig - vor allem, wenn das exzessive Schreien das ganze erste Lebensjahr anhält.

"Das kann spätere Verhaltensauffälligkeiten vorhersagen", sagt auch Silvia Schneider von der Klinischen Kinder- und Jugendpsychologie der Universität Bochum. Gemeinsam mit Wolke und Wissenschaftlern aus Basel hat Schneider vor ein paar Jahren in einer umfassenden Analyse herausgefunden, dass Kinder mit hartnäckigen Regulationsproblemen auch später häufiger Verhaltensprobleme zeigen. Sie haben häufiger Aufmerksamkeitsprobleme, bekommen häufiger eine ADHS-Diagnose, sind häufiger aggressiv oder auch depressiv.

"Dieses Verhalten resultiert ja letztlich auch aus Regulationsproblemen", erklärt Wolke. Am wichtigsten ist es daher, dass das Kind möglichst früh Strategien lernt, wie es mit Schwierigkeiten umgeht und sich selbst beruhigen kann. "Aber damit es das lernt, muss man ihm auch die Gelegenheit dazu geben", sagt Wolke. Wenn ein Kind schreit, sollen sich Eltern zwar kümmern und das Kind nicht sich selbst überlassen. "Aber sie sollten auch nicht sofort eingreifen. Es ist ganz gut, ein bisschen zu warten, um dem Kind eine Chance zu geben, sich selbst zu regulieren."

Angst haben, sich unwohl fühlen - wer es schafft, aus diesen Situationen selbst wieder herauszukommen, hat etwas ungeheuer Wichtiges gelernt. Der braucht auch im späteren Leben hoffentlich nicht immer andere Menschen dazu oder gar Hilfsmittel wie Fernsehen, Smartphone oder Drogen.

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