Süddeutsche Zeitung

Forschung:Wenn Flucht Kunstgeschichte macht

Lesezeit: 4 min

Metropolen als neue Heimat: Burcu Dogramaci forscht an der LMU über Kunst und Migration

Von Martina Scherf

Ein Montagvormittag in der Goldenen Bar im Haus der Kunst. Burcu Dogramaci sitzt an einem der Holztische, durch die hohen Fenster scheint die Herbstsonne herein und bringt die goldenen Wände zum Leuchten. Darauf prangt ein Panorama der Weltläufigkeit: Landkarten und Skizzen von Ländern, in denen Luxusgüter produziert werden - Champagner aus Frankreich, Whiskey aus Schottland, Rum und Zigarren aus der Karibik. Auch die Nazi-Riege, die den Kunsttempel erbauen ließ, konsumierte gerne solch feine Sachen.

Burcu Dogramaci lehrt Kunstgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität, und sie hat diesen Treffpunkt vorgeschlagen, weil sich hier zahlreiche Anknüpfungspunkte zu ihrer aktuellen Arbeit bieten. Heute steht das Museum für moderne - in jüngster Zeit auch betont außereuropäische - Kunst. Und seit Jahren setzt es sich intensiv mit seiner NS-Vergangenheit auseinander. Als Hitler 1937 das "Haus der Deutschen Kunst" mit großem Pomp eröffnete, da waren zahlreiche Künstler schon im Exil: Max Beckmann, Heinrich Campendonk, Lyonel Feininger, Walter Gropius, George Grosz und viele andere. Manche kehrten nie mehr zurück.

Im Herbst 2017 sitzt Burcu Dogramaci also in der Goldenen Bar vor ihrem Cappuccino und sagt: "Der Rechtsruck, den wir in den vergangenen Jahren in vielen Ländern erlebt haben, ist schlimm. Aber ich dachte, dass das in Deutschland nicht passieren würde, dass die Deutschen nicht so geschichtsvergessen wären." Sind sie doch. Jetzt sitzt auch im Deutschen Bundestag eine Partei, die Angst vor allem "Undeutschen" schürt.

Das Fremde zum Sündenbock zu machen sei eben einfacher, als Antworten auf die zunehmend komplexe Welt zu finden, sagt die Kunsthistorikerin. Globalisierung und Digitalisierung, Abstiegsängste, das sei es doch, was die Leute verunsichere. "Wir erleben gerade einen riesigen Umbruch, vergleichbar mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Dafür muss man einen Rahmen finden, sonst suchen sich Menschen den Rahmen im Nationalen, weil sie sich nach Ordnung und Übersichtlichkeit sehnen." Dass es auch im Wissenschaftsbetrieb solche Tendenzen gebe, befremde sie sehr, fügt sie noch hinzu.

Aber eigentlich wollte man nicht über Politik, sondern über die Kunst reden. "Das lässt sich nicht trennen", sagt die Wissenschaftlerin. Kunstgeschichte kann man nicht unabhängig von der jeweiligen politischen Geschichte betrachten, davon ist Burcu Dogramaci überzeugt, auch wenn das manche Vertreter ihres Fach anders sehen. "Künstler reagieren auf Krisen, sie schaffen Gegenbilder. Sie bringen das Konfliktpotenzial ans Licht."

So haben auch die Bilder von Flüchtlingen längst Eingang in die Kunst gefunden. Das Ertrinken im Mittelmeer, die Zäune, die Lager. Die Fotografin Eva Leitolf hat zum Beispiel in ihrer Serie "Postcards from Europe" scheinbar unschuldige Landschaften am Mittelmeer abgelichtet und verweist in dezenten Kommentaren darauf, wie viele Menschen am jeweiligen Ort schon gestorben sind.

Was für die aktuelle Fluchtbewegung das Mittelmeer ist, war für die Flüchtenden vor der NS-Diktatur der Atlantik, sagt Dogramaci. Und immer wieder tauchen in den Bildern über Migration die gleichen Stereotypen auf. Das biblische Bild von der Sintflut etwa - "auch dann, wenn es gar nicht passt, weil die Menschen auf dem Landweg geflohen sind". Oder der Pass. Wer das Glück hat, den richtigen Pass zu besitzen, darf Grenzen überschreiten, andere nicht. "Schon während der NS-Diktatur gab es Künstler, die für Verfolgte Pässe gefälscht haben". Oder der Koffer. "Das sind wiederkehrende Topoi in der Kunst. Es ist wichtig zu wissen, dass das, was wir heute erleben, keine einmalige Erfahrung ist", sagt Dogramaci.

Für sie ist Kunstgeschichte aber auch eine "globale Verflechtungsgeschichte". Denn Künstler haben im Exil Freunde und Konkurrenten gefunden, Netzwerke gegründet und ganze Stadtviertel geprägt - London-Hampstead oder Istanbul-Galata.

"In Hampstead wohnte Walter Gropius, sein Bauhauskollege Marcel Breuer hatte die Isobar eingerichtet, die auch avantgardistische britische Künstler wie Henry Moore besuchten", erzählt Dogramaci.

Es gibt unzählige Beispiele für diese Verflechtungen. Exilanten lehrten an Akademien ihrer Gastländer, sie haben sich einen Teil der anderen Kultur einverleibt und kehrten auf jeden Fall mit einem veränderten Blick auf die Welt zurück. "In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab es eine Bewegung von Europa weg, heute gibt es die Bewegung nach Europa hin", sagt Dogramaci. "Aber wir wissen noch viel zu wenig darüber, wie diese Bewegungen die Kunstgeschichte prägten."

Das hat auch der Forschungsrat der Europäischen Union so gesehen und die Kunsthistorikerin im vergangenen Jahr mit einem großzügigen Etat ausgestattet, damit sie und ihr ganzes Team sich dem Thema Kunst und Migration widmen können. Sie untersuchen sechs Metropolen, die Künstlern im 20. Jahrhundert als Zuflucht dienten: Buenos Aires, New York, London, Istanbul, Mumbai und Shanghai.

Istanbul ist für Burcu Dogramaci, 1971 in Ankara geboren, nicht nur Forschungsgegenstand, sondern auch ein Stück Heimat. Ein Teil ihrer Familie lebt dort. Sie selbst ist in Deutschland aufgewachsen, hat in Hamburg Kunstgeschichte und Germanistik studiert und promoviert. Ihr Mentor, der Kunsthistoriker Martin Warnke, selbst in Brasilien geboren, gab ihr den entscheidenden Impuls für ihre Forschung. "Er fand, ich sollte meine Zweisprachigkeit nutzen." So kam es, dass sie sich mit einer Arbeit über Kulturtransfer und nationale Identität am Beispiel deutscher Architekten und Bildhauer in der Türkei habilitierte. 2009 wurde sie an die LMU berufen.

Sie fühlt sich reich, weil sie in zwei Kulturen, zwei Sprachen zu Hause ist. Doch wer später im Leben neu anfangen muss, für den ist es nicht leicht. "Die Rolle, die Du zur Zeit spielst, ist die schwierigste, aber auch großartigste, die Dir das Leben bieten konnte", notierte Max Beckmann 1940 in sein Tagebuch. Dabei hat er gelitten in Amsterdam und sich immer wieder um ein Visum für die USA beworben. Er bekam es erst nach dem Krieg - und kehrte nie mehr nach Deutschland zurück.

Wenn man die Bedeutung der Migration für die Kunst betrachtet, sagt Dogramaci, "dann müssen wir womöglich Kunstgeschichte neu schreiben". Dann sei es ein Anachronismus, dass Museen die Alten Meister immer noch nach Nationen einteilten - die Niederländer, die Spanier, die Italiener. Rubens, El Greco - sie alle haben ihre Heimat verlassen und sich fremde Kulturen angeeignet.

Zaghaft beginnt die Kunstgeschichte, über den Tellerrand zu blicken. Okwui Enwezor, der Direktor des Hauses der Kunst, öffnet mit seinen Ausstellungen - zuletzt "Short Century" - den Blick auch für außereuropäische Einflüsse. Zur Zeit ist Malerei von Frank Bowling zu sehen. "Da muss ich jetzt unbedingt noch schnell reinspringen", sagt Burcu Dogramaci auf dem Weg in den ersten Stock. Große farbintensive abstrakte Landschaften hängen dort. Auch Bowling ist ein Migrant. Seine Vorfahren waren als Sklaven von Afrika in die Karibik verschleppt worden, er ist in Britisch-Guayana geboren, ging in den Fünfzigerjahren nach London, später nach New York, ist heute Mitglied der Royal Academy of Arts.

Bowlings "Mappa Mundi" ist ein Blick wie aus dem All auf die Welt. Und tatsächlich gab es damals, als er in der New Yorker Kunstszene Fuß fasste, die ersten Satellitenbilder von der Erde. "Von da oben betrachtet, sieht man keine Staatsgrenzen", sagt Burcu Dogramaci: "Diese Grenzen sind immer von Menschen gezogen."

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.3703069
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 11.10.2017
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.