Folter in Milbertshofen:"Kleine Kränkung reicht"

Zwei Jugendliche quälten eine 83-jährige Frau - ohne erkennbaren Grund. Warum Kinder manchmal vor sich selbst geschützt werden müssen, erklärt die Leiterin des Münchner Jugendamts.

M. Maier-Albang

Die frühere Psychologie-Professorin Maria Kurz-Adam leitet seit drei Jahren das Münchner Jugendamt. Die SZ sprach mit ihr über die Vorfälle in Milbertshofen.

SZ: Zwei 13-Jährige schlagen auf eine Nachbarin ein, schütten der dementen alten Frau Maggi in die Augen, treten sie, gießen Urin über sie aus. Wie kann ein Kind in diesem Alter so brutal sein?

Maria Kurz-Adam: Für solch ein Ausmaß an Sadismus muss die gesamte Lebenssituation des Kindes labil sein. Ein Kind ist ja nicht von Natur aus sadistisch veranlagt. Es gibt allerdings Situationen, in denen solche Kinder sich gegenseitig extrem hochschaukeln. Meist steht ihnen dabei ein hilfloses Opfer gegenüber, das sich nicht zur Wehr setzen kann, das von ihnen verachtet wird.

SZ: Aber es muss doch sicher so etwas wie eine natürliche Hemmschwelle existieren? Gerade, wenn man das Opfer kennt.

Kurz-Adam: Diese Hemmschwelle gibt es auch. Sie muss allerdings auch weiter gelernt und verstärkt werden im sozialen Aufwachsen. In bestimmten Situationen aber kann es vorkommen, dass die Täter über die Hemmschwelle hinweggehen. Der Auslöser dafür kann minimal sein, eine kleine Kränkung etwa, für die das Opfer überhaupt nichts kann. Vielleicht nur ein Hinweis eines Lehrers, das irgendetwas nicht gelungen ist.

SZ: Die Jungen fühlten sich von der Wehrlosigkeit der Frau regelrecht angespornt?

Kurz-Adam: Ich kann nur vermuten, dass es so war. Wie man es von Übergriffen auf Obdachlose kennt, auf Menschen, von denen angenommen wird, dass sie in der Gesellschaft ohnehin verachtet werden. Das kann wie ein Freibrief wirken.

SZ: Wollten die Jungs einfach cool sein?

Kurz-Adam: Das glaube ich nicht. Fürs Cool-Sein braucht man Zuschauer. Da muss sie jemand bewundern. Aber hier hatten sie keine Zuschauer.

SZ: Wie geht das Jugendamt mit Kindern um, die Straftaten begehen, aber noch nicht strafmündig sind?

Kurz-Adam: Wir kennen verschiedene Abstufungen unseres Handelns bei Kindern. Wenn etwas vorfällt, das polizeilich relevant ist, erhält die Familie in jedem Fall ein Beratungsangebot. Das ist zunächst freiwillig. Nicht jeder Ladendiebstahl muss ja dazu führen, dass die Eltern Beratung brauchen. War der Vorfall mit Aggression verbunden, geht es also etwa um Körperverletzung, dann schickt die Polizei der Familie das Beratungsangebot. Es ist aber immer noch freiwillig. Denn die Eltern haben die Pflicht und das Recht dafür zu sorgen, dass das Kind sein Verhalten ändert. Spitzt die Lage sich allerdings zu, sehen wir, dass eine Familie keine Beratung annimmt und mit den Problemen nicht zurechtkommt, prüfen wir, ob die Familie Erziehungshilfen bekommen muss. Das geht bis hin zur Prüfung, ob das Kind aus der Familie herausgenommen werden muss. Notfalls werden diese Maßnahmen vom Familiengericht angeordnet. Es geht ja hier um eine drohende Kindeswohlgefährdung.

SZ: Eine Kindeswohlgefährdung? Diese Kinder gefährden doch andere.

Kurz-Adam: Und in dem Maß, in dem sie andere gefährden, sinkt ihre Chance auf eine gute Zukunft. Wir müssen manchmal Kinder auch vor sich selbst schützen, um ihnen diese Zukunft zu ermöglichen.

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